Süddeutsche Zeitung

Helmut Krausser: Substanz:Großer Menschen Toilettenpapier

Bekenntnisse eines Rezensenten: Wie ich einmal der literarischen Saison hinterherhinkte und, durchaus passend, das Beste aus Helmut Kraussers Jahrzehnt las.

Gustav Seibt

Januar

Das Jahr ist noch jung, aber schon zu alt für die wichtigen Bücher der Saison. Alle weg, alles vergeben! Alles? Nein, mir, dem immer zu Spätem, bleibt, ganz passend: Helmut Krausser, "Substanz. Das Beste aus den Tagebüchern". Krausser hat zwölf Jahre lang je einen Monat Tagebuch geführt, von Mai 1992 bis April 2004. So macht er aus einem überlangen Jahrzehnt den Umlauf eines Titanenjahres - ein geradezu heidnischer Einfall! Und nun "das Beste" daraus: Substanz. Oh, das lautet anders als "Abfall für alle", als "Klage" oder als "Siebzig, verweht"!

Attraktiv ist "Substanz" für mich auch deshalb, weil Daniel Kehlmann in einem enthusiastischen Essay die Langfassungen dieser Tagebücher - zwölf kleine Bände - mit bezwingender Überzeugungskraft gelobt hat. "Diese Tagebücher werden gelesen werden, solange Menschen sich für deutsche Literatur interessieren." So steht es nun auch in der Verlagswerbung von Dumont. Die Dauerhaftigkeit von Kraussers Tagebüchern wird also in gewisser Weise ans Überleben Goethes bei der Nachwelt geknüpft! Ich glaube Daniel Kehlmann, denn er bewundert auch Max Goldt, den besten Prosa-Autor meiner Generation.

"Substanz" ist da, mit dem Kehlmann-Zitat auf dem Umschlag. Im zweiten Kapitel, Juni 1993, geht es um Klagenfurt, also um die deutsche Literaturkritik. Maxim Biller hat Krausser nach Klagenfurt eingeladen, ihn dann aber offenbar recht schnöde fallen gelassen. Biller, du Schlange! Das weckt böse Erinnerungen: Ein Jahr später, ca. 1994, habe ich Kraussers Erzählungsband mit dem Klagenfurt-Text unter der Überschrift "Genieverdacht ausgeräumt" verrissen. Ich habe diesen leichten Sieg bald bereut: Er verschaffte mir einen Briefwechsel mit Krausser und die Freundschaft mit Biller. Wenn ich jetzt die Klagenfurt-Szenen in "Substanz" lese, muss ich mich mitgemeint fühlen - bis zum Untergang der deutschen Literatur. Dagegen kann ließe sich wohl nur noch durch entschlossenes Lob ankämpfen.

Inzwischen ist ein beißender Verriss von Florian Illies über "Substanz" in der Zeit erschienen. Schrecklich ist Illies' Text vor allem durch die "Prise wahrhaft verletzenden Wohlwollens", die ihm beigemischt ist (um eine Formulierung von Joachim Fest über Friedrich Sieburg aufzugreifen). Was Illies nicht so sehr tadelt als entnervt zur Kenntnis nimmt, ist Kraussers ungebremster Hang zum apodiktischen Urteil - was ist nicht alles überschätzt oder sogar Dreck in Kraussers Augen: Thomas Bernhard, Thomas Mann, Goethe. Und nicht eine einzige gute Schilderung aus Italien bringt dieser Autor von langwierig beschriebenen Urlaubsreisen mit! Bekommt Illies jetzt Post von Krausser?

Ich habe nun wochenlang versucht, Kraussers Meinungsgewalt zu ignorieren. Auf Meinungen ist gepfiffen - jedenfalls solange jener Schatten von Begründung fehlt, den auch Illies vermisst und der noch die abstruseste Stellungnahme interessant macht. Aber nun: Proust sei "Bettpfannen-Prosa", ja "weinerlich", zitiert Krausser einen Freund und seine Frau zustimmend. Sie "kann nicht glauben, dass es Menschen gibt, denen so was gefällt. Ich glaubs ja auch nicht, aber es muss so sein." Was für ein Irrsinn! Das über den kältesten, unerschrockensten, komischsten Psychologen der Literaturgeschichte! Bettpfannen-Prosa!

Nach dem Bettpfannen-Schock musste die Krausser-Lektüre erst einmal ruhen. Es gibt auch für mich eher glaubenslosen und wurschtigen Menschen eine Grenze. Das Proust-Verdikt wirkte wie ein Schalter, der ein für alle Male umgelegt wurde: Wer so etwas behauptet, dessen übrige Ansichten interessieren mich auch nicht mehr. Immerhin, am 6. August 1995 bietet Krausser einen Ausweg an: "Mahler hat - angeblich - Bruckners Neunte den Gipfel allen Unsinns genannt. Kann ich nicht glauben. Und wenn? Großer Menschen Toilettenpapier wird für zu voll genommen." Oh Gott, das erinnert mich an den alten Scholastiker-Witz, der vom Inhalt des Nachttopfes als "Substanz und Akzidenz" spricht - Carlo Emilio Gadda, der größte Koprologe der neueren Literatur, erwähnt ihn.

Inzwischen ist Klagenfurt 2010 längst verstrichen, und damit der letzte Anlass, noch halbwegs unauffällig-aktuell eine Krausser-Rezension zu platzieren. Die Saison ist vorbei! Ich bin, wie immer zu spät! Dabei entdecke ich inzwischen immer wieder Meinungen bei Krausser, die ich teile: "Ich mag es nicht, wenn ein schnelles, aufregendes Leben gepredigt wird, dessen Exaltiertheit nur darin besteht, anderen auf die Nerven zu gehen." "Diese dauernden Drittweltzustände im Nahverkehr sind kaum noch zu ertragen." Hm. Das könnte auch aus dem wöchentlichen Tagebuch des Focus-Herausgebers Helmut Markwort (gibt es das noch?) stammen: unbedingter Zwang zum Nicken. Ich will meine Meinungen nicht in so schlechter Gesellschaft sehen. "Lass mir meine Meinung, ich lass dir deine Deinung" (Robert Gernhardt).

P.S. Helmut Krausser am 4. April 2004: "Der Mob schimpft, aber Tatsache ist - in keinen zwei Dezennien der deutschen Literaturgeschichte sind so viele große Bücher erschienen wie in den letzten beiden."

HELMUT KRAUSSER: Substanz. Das Beste aus den Tagbüchern, Dumont Verlag, Köln 2010, 462 Seiten, 24,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 22.07.2010/kar
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