Süddeutsche Zeitung

Helene Hegemann: "Schlachtensee":Traurigkeit im Nudelwasser

Ihr Erzählungsband beweist, dass Helene Hegemann die kurze Form beherrscht wie die lange. Und die Oden an das gemischte Gefühl.

Von Miryam Schellbach

Literatur in der kleinen Form erzählt für gewöhnlich von unerhörten Ereignissen. In den fünfzehn Episoden aus "Schlachtensee" aber stehen die drastischen Elemente am Rand. Zwar fällt eine Frau vom Surfbrett und ertrinkt beinahe, ein Vater hat Krebs und sagt es seiner Tochter, eine Handvoll Tiere stirbt einen unnatürlichen Tod, und, wie immer im literarischen Kosmos von Helene Hegemann, werden Körperflüssigkeiten eifrig weitergereicht. Das alles wird aber nur nebenbei erzählt, ist diffuser Hintergrund der hegemannschen Prosa des Aushaltens. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die trotzdem essen, trinken, schlafen. Und vor allem ganz gewöhnlich sind.

Dass es um das betont wenig Besondere geht, muss gesagt sein, denn Helene Hegemanns Bücher wurden oft so gelesen, als ließe sich aus ihnen etwas herausfinden über die jungen Leute heutzutage. Das war mit "Axolotl Roadkill" so, ihrem ersten Roman, den sie 2010 als Siebzehnjährige veröffentlichte. Da wollte etwas über die Drogen-Exzesse einer Berliner Kindheit der Nullerjahre gelernt werden. Und in "Bungalow", dem dritten Roman acht Jahre später, meinte man einen Blick auf die verarmte urbane Mittelschicht gewonnen zu haben. Nein, in "Schlachtensee" lässt sich keine soziologische Prophetie hineindeuten. Ganz im Gegenteil, diese Geschichten sind mehr Abrissbirnen als Charakter- oder Milieustudien, sie sind Oden an das gemischte Gefühl, das Durchschnittliche. Selbst in ekstatischen Momenten, von denen es unzählige gibt in diesem Band, regiert das Bewusstsein der Figuren, zum Durchschnitt zu gehören.

"Ich fühlte mich, als wäre meine Berechtigung hier zu leben, nicht ganz geklärt."

In der Geschichte "НАДРЫВ" etwa zischt inmitten einer alkoholgeschwängerten Dreier-Abschlepp-Szene der Reflexionsblitz in den Kopf der Erzählerin: "Ich durchlebte einen Moment geistiger Erhellung. Ich muss es so bezeichnen. Ich stellte fest, dass das, was hier passierte, langweilig war. Was heißt langweilig. Viele Menschen hatten ein langweiliges Leben. Da passierte nichts, von wenigen Höhepunkten mal abgesehen, Fremdgehen alle zehn Jahre, Fernsehkrimi am Sonntag. Das verhielt sich in dem Kontext, in dem mir gerade die Unterhose ausgezogen wurde, jedoch nicht anders."

Ihre Messung der Durchschnittsamplitude von Ekstasen nimmt die inzwischen dreißigjährige Helene Hegemann auf die ihr eigene Art vor: Kühl bis zur Kälte, anekdotisch, mit exaktem Blick für die Codes, den Habitus, die déformation professionelle der Wohlstandsverwahrlosten und der Armgebliebenen. Die Figuren in "Schlachtensee" heißen Minute, Jacoby oder Safran, leben in Kanada, Nordfrankreich oder Russland, lieben lässig polyamourös, geben Geld aus, trinken, daten, bemitleiden sich für ihre vielen Lebensoptionen und kultivieren eine Haltung: ein bisschen neben der Spur sein. "Ich fühlte mich, als wäre meine Berechtigung hier zu leben, nicht ganz geklärt", sagt eine Figur, die es sich in einer nicht besonders rechtfertigungsbedürftigen Hippiekommune in Kanada gemütlich macht. Manchmal haben diese Dreißigjährigen auch ethische Regungen. So eine Art Natur- und Tierschutzreflex, der aber in einer weinseligen Theoriedebatte verpufft.

Der womöglich lustigste Tiervergleich, den die Gegenwartsliteratur zu bieten hat

"Die Pfauengeschichte" ist eine Story, bei der man sich lange fragt, in welche Bewusstseinsschichten sie hineinreicht. Geht es um einen mit dem Golfschläger erschlagenen Pfau auf dem Grundstück eines Superreichen in South Carolina? Geht es um die Hypokrisie, mit der die Nachbarn des Golfschlägermörders sich über diese Anekdote moralisch entrüsten, während sie in einem Restaurant Gänsestopfleber dinieren? Auch das soll, der unentwegt kommentierenden Erzählerin zufolge, nicht die Pointe sein: "Man darf Gänsestopfleber essen und sich gleichzeitig über den Mord an einem Pfau echauffieren, das schließt sich nicht zwingend aus. Sie hält es nicht mal für einen allzu großen Widerspruch, sich in einem Maserati sitzend über soziale Ungerechtigkeiten zu beschweren. Das geht schon irgendwie. Das muss drin sein."

Die Auflösung gibt es nicht. Helene Hegemann jongliert die Widersprüche, spitzt sie zu und unterspült sie dann mit allegorischen Bildern. Am Ende stolzieren drei Pfaue durch die Geschichte. Zwei Hennen, dazwischen ein "alter männlicher Pfau, der kaum noch Federn hat". Der Verlust seines Pfauenrads hat ihn das Gleichgewicht gekostet: "Der Pfau scheint nicht zu verstehen, dass der hintere Teil seines Körpers nicht mehr vom vorderen ausbalanciert werden muss, der checkt nicht, dass ihm da was fehlt, deshalb stolpert der immer so nach vorne und donnert bei jedem zweiten Schritt mit der Nase gegen den Boden. Der ganze Körper denkt, da wäre hinten noch was dran. Dabei ist da nichts mehr. Nur sein nackter alter Arsch." Das könnte der lustigste Tiervergleich sein, den die Gegenwartsliteratur zu bieten hat.

Das sind die starken Momente in "Schlachtensee", in denen Hegemanns Bilder so politisch knistern wie das des hinkenden Pfaus. Häufig geht es dabei um missverstandene Männlichkeit, um peinlich wenig reflektierte männliche Egos. In "НАДРЫВ" gibt es dann auch einen gescheiterten Dreier: floppt wegen mangelnder Beteiligung. "Arkadi fickt sie nicht. Stattdessen beginnt er, ihr einen Vortrag zu halten. Einen strengen Vortrag, mit erhobenem Zeigefinger." Dann gehen alle nach Hause. Helene Hegemanns große Fähigkeit ist, mit wenigen Worten Figuren mit viel Reibungsfläche kreieren zu können. Besonders sympathisch ist ihr Personal nicht, und doch will man sich gern in der Nähe ihrer auratischen Indifferenz aufhalten. "Sandkastenliteratur über dressierte Menschen mit dressierten Gefühlen" gibt es hier nicht zu lesen, warnt einmal eine Erzählerin die Leserinnen und Leser des Bandes.

Der Schriftsteller Leif Randt hat in der Literaturzeitschrift Bella Triste einmal den Begriff "Post-Pragmatic Joy" für die Gegenwartsliteratur, besonders seine eigene, geprägt. Eine Art Lebenshaltung des akzeptierenden Pragmatismus, aber auch eine ästhetische Stimmung: "Sachen so sagen, wie sie sind, ohne darunter leiden zu müssen. Wach sein, aber nicht überspannt, mittendrin, aber nicht verloren." Dieses ästhetische Therapeutikum hat von Anfang an zwei Probleme gehabt. Dieser Pragmatismus ist allzu leicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln. Und Gleichgültigkeit als Lebenshaltung ist banal, alltäglich, vertraut. Literatur darf und muss Banales beschreiben. Aber sie muss zeigen, dass sie weiß, dass sie das tut. Sie braucht eine Art eingebauten Reflexionsmotor, sonst hinkt sie möglicherweise selbst wie ein Pfau, der sein Rad verloren hat. Weil sie denkt, an dieser Haltung wäre mehr dran, als dran ist.

In Hegemanns Geschichten ist das glücklicherweise anders, die Figuren leiden unter ihrer Banalität. Das ist herrlich widersprüchliche Prosa, manchmal zynisch, niemals heiter oder lauwarm. Anders als über die Romane von Helene Hegemann werden über "Schlachtensee" aber vermutlich keine literaturwissenschaftlichen Seminare abgehalten werden. Dafür sind die Geschichten zu leicht skizziert, im Grundton zu leise. Sie sind ein Nebenwerk einer Autorin, die einst als "Wunderkind" der deutschsprachigen Literatur begrüßt wurde. Sie zeigt damit, dass sie die kurze wie die lange Form beherrscht.

Für die richtigen Fans gibt es auch ein bisschen Hegemann-Folklore. Das obligatorische Literaturverzeichnis, das seit dem Plagiatsskandal um "Axolotl Roadkill" zum Arsenal der Unschuld ihrer Bücher gehört. Und ab und an kommt es zu einem dieser unverkennbaren Hegemann-Sätze, die das Leid durchlässiger Menschen an der Welt so gut in einem Bild zusammenfassen, dass die Traurigkeit einen beim Lesen anspringt. In "Himmel", einer Geschichte über den Suizid, über Wolkenformationen und Goethe, monologisiert die Erzählerin: "Als ich aufwache, dämmert es. Ich gehe in die Küche, trinke eine Tasse aufgefangenes Nudelwasser von vorgestern und ahne, dass ich mich umbringen muss." Macht sie dann aber nicht, stattdessen liest sie Klassiker und observiert den Himmel. Helene Hegemann kann die Krassheit ihrer Bilder vortrefflich mit Idylle ausbalancieren.

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