Helene Hegemann:Ich bin in Berlin. Es geht um meinen Wahn.

Die Autorin von Axolotl Roadkill war gezwungen, abzuschreiben: Nur so konnte sie verbergen, was ihr fehlt. Dieses Buch ist Pornographie, keine Literatur.

Thomas Steinfeld

Man kann nicht mehr über Helene Hegemann nachdenken, ohne dass einem diese junge Frau leid tut. Von Reporter zu Reporter wird sie gereicht, von Fernsehauftritt zu Fernsehauftritt, und jetzt wurde Axolotl Roadkill, das kleine Buch, um das sich die ganze Aufregung dreht, sogar in die Shortlist zum Leipziger Buchpreis aufgenommen.

Helene Hegemann: Zur Verteidigung ihres Abschreibens hat Helene Hegemann erklärt: "Wenn da die komplette Zeit über reininterpretiert wird, dass das, was ich geschrieben habe, ein Stellvertreterroman für die Nullerjahre ist, muss auch anerkannt werden, dass der Entstehungsprozess mit diesem Jahrzehnt und den Vorgehensweisen dieses Jahrzehnts zu tun hat, also mit der Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum  Kopieren und zur Transformation."

Zur Verteidigung ihres Abschreibens hat Helene Hegemann erklärt: "Wenn da die komplette Zeit über reininterpretiert wird, dass das, was ich geschrieben habe, ein Stellvertreterroman für die Nullerjahre ist, muss auch anerkannt werden, dass der Entstehungsprozess mit diesem Jahrzehnt und den Vorgehensweisen dieses Jahrzehnts zu tun hat, also mit der Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation."

(Foto: Foto: ddp)

Der Umstand, dass Teile dieses Werkes aus vielen ungenannten Quellen kompiliert wurden, ist dabei das kleinere Problem. Das größere ist, dass es so offensichtlich ist, dass die Autorin weder über die Erfahrung noch über die Sprache verfügt, um überhaupt einen Roman schreiben zu können. Denn das kann man lesen, in jedem Satz: "Ich hingegen erfreue mich an der von mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfelds gleich mit entlarvt."

Der Fluch ist echt

Von "entlarven" kann hier zwar keine Rede sein, um so mehr aber ist von einem monströsen Autoren-Ich zu sprechen, von einer ebenso scheußlichen wie hohlen Larve, hinter der, literarisch und psychologisch, ein Einzelwesen nicht zu erkennen ist. Aus Gründen, von denen noch zu handeln ist, fällt der literarische Halloween in diesem Jahr auf den Februar. Aber der Fluch ist echt: Da sitzt das Kind in den Talkshows, und es bekommt seine hässliche Larve nicht mehr herunter.

Ein Satz, willkürlich aus der Mitte des Buches gegriffen: "Ich kann das nicht ausdrücken, denn ich habe keine Ausdruckswaffen mehr, sondern nur eine dunkel über meiner Existenz thronende Aufnahmefähigkeit, die nicht ausgeschaltet werden kann und mein komplettes Innenleben in verknotete Wurstbindfäden verwandelt hat."

Wie? Da "thront" ein Apparat, den man mit keiner Anschauung verbinden kann, über einer "Existenz" und verwandelt ein "Innenleben" in "Wurstbindfäden"?

In die nächste Metapher kippen

Entspräche diesem Satzungetüm eine literarische Technik, müsste man sie so beschreiben: Man suche sich mindestens eine Metapher von der möglichst schrillen, affektgeladenen Sorte, packe sie in einen Satz, der, ohne dass es dafür eine inhaltliche Notwendigkeit gäbe, von hoher syntaktischer Schwierigkeit ist, und lasse sie, in dem Augenblick, in dem der Leser erkennen will, was es mit dem Vergleich auf sich hat, in die nächste, ebenso unpassende Metapher kippen.

Die wüsten Sprachbilder bedrängen sich so gegenseitig, stehen einander auf den Füßen herum, rutschen zur Seite und stiften jede Menge Verwirrung.

Das Durcheinander ist Absicht, denn es gibt etwas zu verbergen: einen substantiellen Mangel an Erfahrung. Helene Hegemann mag die Geschichte ihres jungen Lebens für sich behalten, und auch wenn die Öffentlichkeit noch so sehr darauf drängt zu erfahren, was es mit den Körperöffnungen der jungen Frau tatsächlich auf sich hat, was hineingestopft und was aus ihnen entleert wird, so ginge es das Publikum doch eigentlich nichts an, wenn die Beschreibung des körperliches Exzesses hier nicht das bevorzugte Mittel wäre, eine Erfahrung zu suggerieren.

Weil da gar kein Leben ist

"Ich bin in Berlin. Es geht um meine Wahnvorstellungen" - und wenn dann hauptsächlich vom Ficken und vom Kotzen, vom Scheißen, vom Saufen und vom Kiffen die Rede ist, dann nicht, weil das Leben "in Berlin" so ist, sondern weil da gar kein Leben ist.

"Mir bereitet es keine Schwierigkeiten, dabei zuzusehen, wie einer Sechsjährigen bei vollem Bewusstsein gleichzeitig mit kochendem Schwefel die Netzhaut ausgebrannt und irgendein Schwanz in den Arsch gerammt wird, und danach verblutet sie halt mit weit geöffneten Augen auf einem Parkplatz" - solche Sätze stehen in diesem Buch, ohne Verbindung zu dem, was vor ihnen, und dem, was nach ihnen steht, und trotzdem sind diese Sätze notwendig, damit dieses Buch überhaupt eines wird.

Das unerträglich Schrille

Denn ein jeder dieser Sätze schreit: Ich bin das Leben, ich bin das pralle, wüste, wilde Leben, und jeder Satz schreit immer lauter, weil er nicht wahr ist und weil seine Autorin das weiß. Das nahezu unerträglich Schrille an Axolotl funktioniert wie der Exzess im avancierten Regietheater: als Versuch, jeden Zweifel an seiner Lebendigkeit niederzubrüllen.

Deswegen lässt Helene Hegemann ihren Lesern auch keinen Raum, deswegen sucht sie in jedem Satz den Superlativ, deswegen bekämpft sie, berechnend, jeden Anflug von Phantasie mit dem allgegenwärtigen Wort "Scheiße" - und deswegen ist Axolotl keine Literatur, sondern Pornographie: ein Versuch, die reflexive, ästhetische Distanz aufzuheben, mit Bildern, die den Leser zum direkten, unverstellten, fassungslosen Hingucken zwingen sollen.

"Seht mal, wie böse ich bin"

Und deswegen ist Axolotl ein aus vielen Versatzstücken zusammengetragenes Plagiat, bei dem sich der ganze Umfang des Kopierten wohl erst in einigen Tagen offenbaren wird.

Denn wenn man wenig erlebt hat, und wenn die Sprache nicht ausreicht, man aber trotzdem Schriftstellerin sein will: Was kann man dann tun, wenn man ein naseweiser, vielleicht etwas altkluger und nach Geltung gierender Teenager ist, der im Kulturbetrieb etwas erreichen will - was kann man tun, außer abschreiben, im Internet, im einem Roman eines weitgehend unbekannt gebliebenen Autors mit dem Pseudonym Airen, in einem Kurzfilm von Benjamin Teske oder wo auch immer?

In Interviews betont Helene Hegemann stets, dass sie nur eine Figur erfunden habe (Mifti) , die mit ihr wenig zu tun habe. Sie selbst nehme keine Drogen. Und dennoch: Diese Mifti wird als "authentischen Stimme der Jugend" wahrgenommen. Die autobiographische Koketterie ist ganz in den Schreibakt verlagert: Statt zu sagen: "seht mal, wie böse ich bin", sagt die Autorin: "Seht mal, wie böse ich schreiben kann, obwohl ich es selbst gar nicht bin."

"Voll affirmativ"

Das Verhältnis des Buches (und seiner begeisterten Rezensenten) zur Suada der Heldin ist, wie sie selbst sagen würde, "voll affirmativ". Die Sprache ist die eines Milieus, das sich selbst feiert.

Dass Helene Hegemann mit diesem Buch so erfolgreich ist - darauf mögen sie und ihre Berater gehofft haben, wohl wissend, welche Reflexe mit dem Pornographischen einsetzen, und vielleicht ahnend, was für ein Geschäft hier zu machen ist. Letztlich können sie aber nichts dafür. Denn es kommen hier zwei Motive von außen hinzu.

Das eine ist die Leidenschaft der Leser (und der Kritik) für die jugendliche Gottheit: Nicht einmal volljährig sein, und doch ein künstlerisches Meisterwerk schaffen zu können, an der Tradition vorbei - das wäre was? Und gelang es nicht Georg Büchner und Peter Handke?

Der eigene Beitrag

Aber die Sehnsucht nach der Abkürzung lässt eine solche noch nicht entstehen, und je länger die Geschichte der Literatur wird, desto schwieriger muss es sein, der Tradition an ihrem (vorläufigen) Ende einen eigenen Beitrag hinzuzufügen.

Und gab es nicht vor zehn Jahren Benjamin Lebert, einen Siebzehnjährigen, mit der mehr oder minder selbsterlebten Geschichte Crazy - und auch ein Bestseller war auch dieses Buch, und dann verschwanden Autor und Werk aus der Öffentlichkeit. Dabei konnte Benjamin Lebert immerhin von eigenen Erfahrungen erzählen.

Warum half ihr keiner?

Helene Hegemann hingegen plagiiert - und vergisst (zumindest angeblich), wo sie plagiiert hat. Womit sie, neben allem anderen, dem Plagiat auch noch die Möglichkeit nimmt, literarisch fruchtbar zu werden. Und noch einmal: Helene Hegemann ist erst siebzehn Jahr alt, fast ein Kind noch. Aber warum half ihr keiner?

Das Obszöne, lehrte der französische Philosoph Georges Bataille, sei die Enteignung der Individualität im "Spiel der Organe". Obszönität aber ist ein Verhältnisausdruck, hinter sich jetzt schon seit Jahrzehnten eine antiphilosophische Mystik herumtreibt: der Glaube an "das Leben".

Dieser Glaube ist es, der die Forschungsreisenden des Obszönen in immer tiefere Regionen des Körpers vorantreibt. Immer muss ausgesprochen werden, was noch nie gesagt wurde, getan, was noch nie einer ausprobierte, geschehen, was kein Beispiel hat, am liebsten mit Minderjährigen.

Der Größe nach aufgereiht

So entstehen Szenen wie diese: "Ich stehe in einer aus einem englischen Kino-Highlight entrissenen Maisonette-Wohnung und fasse einem glatzköpfigen Mann in den Schritt. Indem er mit dem Lippenstift ,Spermafotze' an die Wand schreibt, stellt er unter Beweis, dass er ein hirnorganisches Syndrom hat. Alle Paar Schuhe, die ich jemals besessen habe, stehen der Größe nach aufgereiht in der Mitte des Zimmers."

Das ist erotischer Schwulst, und er gehorcht dem Gesetz des schärferen Reizes - dem ebenso verklemmten wie angeberhaften Vitalismus eines Publikums (und einer Kritik), das stellvertretend angebliche Tabus brechen lässt. Doch, genau, solche Dinge möchte man sich von einer sich womöglich selbst verbrennenden jungen Fackel erzählen lassen. Das muss das wahre Leben sein. Wie spießig das aber ist, und wie feige.

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