Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf":Ganz unten in Niendorf

Sommer an der Ostsee

Hochsaison an der Lübecker Bucht und Heinz Strunks Held kommt seinem alten Leben abhanden: Blick auf den Strand von Niendorf.

(Foto: dpa)

Ein Anwalt will Starautor werden und begibt sich in ein Ostseebad mit Tradition: Heinz Strunk schafft wieder einmal eine Horrorversion seiner literarischen Vorbilder.

Von Erika Thomalla

Die Erwartungen könnten kaum höher sein. Als eine "Art norddeutsches ,Tod in Venedig'" kündigte der Rowohlt-Verlag Heinz Strunks Roman "Ein Sommer in Niendorf" an. Die Verbindung mit Thomas Manns berühmter Novelle, in der ein erfolgreicher, asketisch lebender Schriftsteller nach Venedig reist, dort der Schönheit des jungen Tadzio verfällt und schließlich an der Cholera stirbt, kann allerdings nur ironisch verstanden werden. Denn Strunks Roman ist in mehr als einer Hinsicht das exakte Gegenteil eines Thomas-Mann-Stoffs.

Roth, der Protagonist von "Ein Sommer in Niendorf", ist kein Schriftsteller, möchte aber einer werden. Er hat sich eine dreimonatige Auszeit von seinem Beruf als Anwalt genommen, um in jenem Ostseebad, in dem zu Beginn der 1950er-Jahre die Gruppe 47 tagte, aus seiner Familiengeschichte einen Bestseller zu machen: "Buch, Hörbuch, E-Book, Podcast, vielleicht findet sich sogar jemand, der den Stoff verfilmt. Netflix oder Amazon Prime oder RTL+ oder Disney+." Er imaginiert sich bereits als "Starautor auf ausverkaufter Lesereise, an dessen Lippen allabendlich Hunderte (Tausende) von Menschen hängen".

Doch mit dem Schreiben will es in Niendorf nicht richtig klappen. Das liegt nicht nur daran, dass sich die Tonbänder, die Roth täglich abhört, als ungeeignetes Material erweisen, sondern hängt vor allem mit den Begegnungen zusammen, die er dort macht. Anstelle des Geists der Gruppe 47 findet Roth in Niendorf bloß Hässlichkeit und soziales Elend. Er geht eine eher unfreiwillige Freundschaft mit seinem Vermieter Breda und dessen Freundin Simone ein. Breda, der sich gleichzeitig als Strandkorbvermieter und Spirituosenhändler verdingt, ist das komplette Gegenteil eines schönen, verführerischen jungen Manns - ein Säufer, vulgär, aufdringlich und unansehnlich: "Breda sieht aus wie eine Schnecke, die jemand gegen die Wand geworfen hat (...). Zwischen seinen auf- und zuklappenden Lippen hängt ein Dutzend zitternder Speichelfäden, am Rand seines Weinglases kleben Speichelreste." Und auch Simone, deren "Dicksein" alles andere überschattet, findet Roth durch und durch abstoßend. "Tod in Venedig" also allenfalls unter verkehrten Vorzeichen und in einer typischen Strunk-Welt: ohne Schönheit, Askese oder Prominenz.

Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf": Der Schriftsteller Heinz Strunk ist in diesem Jahr 60 geworden.

Der Schriftsteller Heinz Strunk ist in diesem Jahr 60 geworden.

(Foto: Christian Charisius/dpa)

Wie alle Strunk-Romane zeichnet sich "Ein Sommer in Niendorf" durch einen Sound aus, der klingt, wie unmittelbar aus Reality-TV-Sendungen, in Absturzkneipen oder an Autobahnraststätten mitgeschnitten. Einige Szenen haben eher den Charakter von Nebengeräuschen, die zufällig im Roman gelandet zu sein scheinen. Doch gerade wenn die Geschichte durch solche dialogischen Episoden unterbrochen wird, erkennt man die Qualität von Strunks Schreiben: sein protokollarisches Verhältnis zur Alltagswirklichkeit. Seine Kunst besteht darin, die verkommensten und trostlosesten Milieus realistisch nachzuzeichnen, ohne sich über sie zu erheben oder sie zu parodieren. Im Gegenteil erweisen sich oft gerade Figuren, die sich für moralisch und intellektuell überlegen halten, als die eigentlich verkorksten.

So verhält es sich bei Roth, der im Maßanzug nach Niendorf reist, stolz darauf ist, noch nie in seinem Leben einen Döner gegessen zu haben und für seinen Vermieter anfangs nichts als Herablassung übrig hat: Breda ist für ihn ein "abgerissenes Viech", ein "Freak", "eine dumme Sau, lallend, spuckend, sich in die Hose pissend, ein Penner". Doch je länger sein Aufenthalt an der Ostsee dauert, desto mehr zeigt sich, dass Roth in der Welt des sozialen Elends, das er verachtet, alles andere als ein Außenseiter ist: Er trinkt so viel, dass er das Bewusstsein verliert, fällt in Hundekot, reißt sich die Hose auf, spannt einer jungen Kellnerin hinterher, begeht Fahrerflucht, belügt seine bankrotte Tochter, der er kein Geld leihen möchte, und schlägt seiner Ex-Frau im Streit ins Gesicht. Alle seine Beziehungen erweisen sich als dysfunktional. Nach und nach reift die Überzeugung in ihm, dass der "treue" Breda und die "liebe" Simone die einzigen Personen auf der Welt sind, die an ihn denken und sich um ihn kümmern.

Heinz Strunk: "Ein Sommer in Niendorf": Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf. Roman. Rowohlt, Hamburg 2022. 240 Seiten, 20 Euro.

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf. Roman. Rowohlt, Hamburg 2022. 240 Seiten, 20 Euro.

(Foto: Rowohlt)

Als sich der Aufenthalt dem Ende zuneigt, hat sich etwas verändert. Roth ist seiner ursprünglichen Welt entfremdet und weiß "nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden". Die Rückkehr in seinen Arbeitsalltag erscheint ihm unmöglich. Nachdem er seinen Aufenthalt zunächst um eine Woche verlängert hat, deutet sich an, dass er den Badeort möglicherweise nie wieder verlassen wird.

Mit dieser Wendung ist die Reminiszenz an eine weitere Thomas-Mann-Erzählung verbunden: den Roman "Der Zauberberg", aus dem Roths verstorbener Vater, wie man beiläufig erfährt, "wörtlich zu zitieren vermochte". Auch in diesem Fall handelt es sich allerdings eher um ein Zerrbild als um eine Nachahmung. Während Hans Castorp, der Protagonist des "Zauberbergs", seinen ursprünglich für drei Wochen geplanten Aufenthalt in einem Davoser Luxus-Sanatorium auf sieben Jahre ausdehnt, bleibt Roth einem "Zementhaufen" mit "Siebzigerjahre-Schrottarchitektur" verhaftet. Statt wie Castorp durch die Faszination für einen weltgewandten, gebildeten Mentor und die Liebe zu einer zarten, faszinierenden Frau an den Ort gebunden zu werden, verfällt Roth dem "übergriffigen" Alkoholiker Breda und der gefühligen, adipösen Simone. Mehr noch: Als Breda krank wird und schließlich stirbt, übernimmt Roth dessen Jobs und dessen Freundin.

Die Pointe liegt darin, dass das, was äußerlich den Eindruck einer sozialen Abstiegsgeschichte macht, nicht zur Katastrophe, sondern zur Befreiung führt. In der kaputten Welt von Niendorf findet Roth sein Glück. Der "Tod in Niendorf" ist, weil hier im Gegensatz zu Manns "Tod in Venedig" der Andere stirbt, die Geschichte einer geglückten Substitution: Roth ist Breda geworden.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusExklusivGeburtstag von Claus Peymann
:In des Zauberers Paradies

Claus Peymann feiert seinen 85. Geburtstag und lädt in seinen Garten. Ein Partybesuch.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: