Heinz Erhardt: 100. Geburtstag:Wirf alles von Dir, was dich hemmt!

Heinz Erhardt wäre 100 geworden

"Die Worte fallen mir leicht aus dem Gehege meiner Zähne": Heinz Erhardt.

(Foto: dpa)

Der komische Nachkriegsdeutsche und sein Bühnenzauber: Vor hundert Jahren wurde Heinz Erhardt geboren und ging der deutschen Sprache an die Wäsche.

Lothar Müller

Er hat im Volkswagen gesessen und den Mercedes gestreichelt. Er hat Suppe gegessen und einiges mehr und war ein wenig rund. Irgendwann, schon ehe er ihn drehte, verschmolz er mit dem Titel des Films "Mein Mann, das Wirtschaftswunder" (1960). Er war sehr gut im Register der unschuldig-schuldbewussten Gesichtsausdrücke, wenn er sich als Witwer mit fünf Töchtern sagen lassen musste: "Papi kleckert auch." Und das Kleckern, das Nicht-Ganz-Dicht-Sein war überhaupt seine große Spezialität. Er führte darauf sogar sein Dichter-Sein zurück.

Aber er konnte der Mann, der mit Kalauern und Polkas das Wirtschaftswunder-Deutschland bei Laune hielt, nur sein, weil in ihm nicht nur das Wirtschaftswunder steckte. Ein Genie der Entlastung von Geschichte wird man nicht ganz ohne historische Erfahrung. Es steckte auch die Kriegszeit in ihm. Immerhin war er 1909 geboren, in Riga, seine Kindheit fiel in den Ersten Weltkrieg, seine Karriere begann im Zweiten Weltkrieg, und als Kind einer zerfallenden Ehe zirkulierte er über das Baltikum hinaus bis nach Petersburg. In der Anekdote, die er über seine abendliche Geburt erzählte, zeigt das Thermometer schon am Vormittag minus 11 Grad. Und einer seiner berühmten Vierzeiler handelt vom kalten Wind: "Es wohnt ein Wind in Leningrad, / der pustet kalt, / wer da nicht einen Mantel hat, / der hustet bald."

Im Rückblick auf die Welt, in der der Stern des Komikers Heinz Erhardt aufging, wird aus diesem Mantel unweigerlich ein deutscher Soldatenmantel, und es ist auch ganz klar, wer in diesem Mantel steckt: einer wie der Kriegsheimkehrer Beckmann, der Held in Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür".

Heinz Erhardt war der Gegenpol zu Wolfgang Borchert in der Nachkriegskultur der Deutschen. Ein Dutzend Jahre älter und keineswegs jung verstorben, 1941 zur Wehrmacht eingezogen, aber als Nichtschwimmer in der Marine im Musikkorps tätig, war er in Gestalt und Gestik unverkennbar Zivilist, und während Borchert für die Kälte und das - auch symbolische - Erfrieren zuständig war, hatte Heinz Erhardt auch dort, wo er den kalten Wind besang, etwas von einem brummenden, verlässlichen Ofen, der die Stube wärmt.

Den Rat ihres Dichters Novalis, nach einem verlorenen Krieg müssten Komödien geschrieben werden, haben die Deutschen nach 1945 nicht befolgt. Dafür hatten sie Heinz Erhardt, und das war auch nicht schlecht. Denn er hat vor dem deutschen Nachkriegspublikum eine ganz eigene Komödie aufgeführt. Sie hatte nur zwei Protagonisten, ihn selbst und seine Partnerin. Die hatte den Part der alten Dame, die sich gehen lässt, und er hatte dafür eine Idealbesetzung gefunden: die deutsche Sprache. Früh hatte er das Fräulein Mabel (englisch auszusprechen!) in die Welt gesetzt und mit ihr das Grundmuster seiner Komödie eingeübt, die aus nichts anderem bestand als darin, dass er der deutschen Sprache an die Wäsche und diese infolgedessen unter ihr Niveau ging. In den zahlreichen akustischen und audiovisuellen Aufzeichnungen, die es von seinen Live-Auftritten vor Publikum gibt, kann man die Betriebstemperatur erahnen, auf die Heinz Erhardt einen Saal zu bringen vermochte.

Die "Windbeutel" hinter den "Sturmsäcken"

Man kann die Verzögerungstechniken studieren, mit denen er seine Pointen brachte, und erkennen, dass er nicht nur den schief gelegten Kopf und todtraurigen Blick beherrschte, sondern auch den Lachsack. Wie oft bringt er die Leute zum Lachen, indem er das Lachen selbst vorführt, sich gickernd unterbricht und eine der ältesten Figuren des Gelächters auf die Bühne zitiert, das ansteckende Lachen: wenn er hinter dem "Masernhügel" den "Scharlachberg", hinter den "Goetheglatzen" die "Schillerlocken" und hinter den "Sturmsäcken" die "Windbeutel" hervorzieht.

Ein Satz aus seinen Eingangs-Conferencen könnte als Motto über den Live-Auftritten Heinz Erhardts stehen: "Wirf alles von dir, was dich host - ach, nein, ich wollte sagen: was dich hemmt. Aber irgendein Kleidungsstück war es." In Pointen wie diesen schloss er einen Pakt mit seinem Publikum. Und der lautete: Heute sind wir nicht nur komisch, sondern urkomisch. Heute sind wir nicht nur witzig. Heute blödeln wir. Heute gibt es nach unten keine Geschmacksgrenze. Heute sind wir enthemmt.

Pionier der Fernsehunterhaltung

Ja, Heinz Erhardt gab die Rolle des komischen Deutschen multimedial, er war auch ein Mann des Rundfunks und der Tonstudios, im NWDR der Nachkriegszeit rasch auf Sendung, er drehte unzählige Filme, darunter viele schlechte, und er war trotz anfänglicher Skepsis ("Damit man sähe, was man höre, / erfand Herr Braun die Braunsche Röhre. // Wir wär'n Herrn Braun noch mehr verbunden, / hätt' er was anderes erfunden") auch ein Pionier der Fernsehunterhaltung in Deutschland.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Heinz Erhardts Publikum "schamviolett" wurde.

Wirf alles von Dir, was dich hemmt!

Aber der heiße Kern seines Paktes mit dem Publikum, das kalkulierte Spiel mit der schamlosen Enthemmung, war vor allem ein Bühnenphänomen. Hier, im Reich der erhöhten Betriebstemperatur, reichte es aus, in einer Anekdote aus dem Skiurlaub das Wort "Pisten" augenzwinkernd wie ein Unwort zu betonen, und schon brach prustendes Gelächter los. Hier war der Stoßseufzer der Deutschen in den fünfziger Jahren - "Man hat viel durchgemacht" - stets mit der Klobrille assoziativ verknüpft, hier war "das Zitat aus dem Götz" allgegenwärtig, hier war das Jonglieren mit Kalauern und Schüttelreimen immer wieder von Momenten des fiktiven Stolperns und der Ordnungsrufe Heinz Erhardts an sich selbst und sein Publikum durchsetzt.

"Man wird ja ganz schamviolett"

"Nein, das gilt nicht", "pfui", "bäh, bäh" - Interjektionen wie diese säumten die lustvollen Regressionen in die Welt der noch nicht stubenreinen Kinderstube, und es gibt Aufnahmen, in denen Heinz Erhardt diesen ultimativen Ort der Entlastung von allem, was sich gehört, in der Mimikry mit dem Brabbeln unaussprechlicher Wörter erreicht.

In vielen Lachsalven, die Heinz Erhardt ("Man wird ja ganz schamviolett!") entfesselte, war, bis heute hörbar, ein leises Schaudern des Publikums über sich selbst gemischt, wie es sich nach dem erfolgreichen Überschreiten von Peinlichkeitsgrenzen einzustellen pflegt. Es war aber zugleich ein befreites Lachen, vor allem dort, wo die Albernheit die Hochkultur der Literatur, des Theaters, der Opern und des Konzertsaals erfasste. Den er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, über den Begriff des Klassischen grundsätzlich zu stolpern.

Stabiles Versmaß

Das aber funktionierte so gut, weil die klassische Bühnensprache als kulturelle Norm noch lebendig war: man schaue sich an und höre zu, wie Heinz Erhardt in Gedicht "Das Gewitter" als Parodie einer Balladenrezitation inszeniert ("Die Luft ist schewül"), wie er die Arme dramatisch ausfährt, sich in die Faust beißt und ein "Aua!" hinterherschickt, wie er schließlich das Spiel mit der pathetischen Klimax in der nassforschen, beiseite gesprochenen Pointe enden lässt. Das lebt, wie die Mehrzahl seiner Gedichte, von der Stabilität der zitierten und parodierten Formen und Versmaße Goethe, Schillers, Uhlands.

Der klassische Kanon war einer der verlässlichsten Pointenlieferanten Heinz Erhardts. Er zerschredderte ihn und folgte auch darin dem Grundgesetz der Entlastung. Wenn er munter schwadronierte: "Ja, die Worte fallen mir leicht aus dem Gehege meiner Zähne", zitierte er die Odyssee in der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt. Und er parodierte nicht nur Balladen und Dramenmonologe, sondern auch das Virtuosentum der Schauspieler und Sänger, der Tastenlöwen ("Ich bitte den Pianisten, mich zu betasten").

Rückzug der alten Dame

Das alte Bündnis zwischen dem komischen Gedicht und dem Reim feierte auf der Bühne Heinz Erhardts Erfolge, während in der lyrischen Moderne der Hochkultur der Reim verabschiedet wurde. Die alte Dame aber, der er an die Wäsche ging, entzog sich Heinz Erhardt nach seinem Schlaganfall 1971, der sein Sprachzentrum in Mitleidenschaft zog. Er starb 1979 zurückgezogen an seinem Nachkriegswohnsitz in Hamburg. In den jüngeren Anthologien über die komischen Gedichte der Deutschen steht er nun inmitten der Kollegen, an deren Seite er sich wünschte: "O wär ich / der Kästner Erich! / Auch wär ich gern / Christian Morgenstern. / Und hätte ich nur einen Satz /vomRingelnatz! / Doch nichts davon! - Zu aller Not / hab ich auch nichts von Busch und Roth! / Drum bleib ich, wenn es mir auch schwer ward / nur der Heinz Erhardt ...".

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: