Steht ein Mann im Moor und liest. Er trägt Gründerzeitkluft, studiert aber ein Insel-Büchlein aus dem Jahr 2000. Es sind Rilke-Gedichte, "In und nach Worpswede". Die Jahrhunderte krachen zusammen in der ersten Szene von Marie Noëlles Doku-Spielfilm über Heinrich Vogeler. Es ist klar: Das hier wird nicht einfach der nächste Künstlerbiografieschinken mit Kostümen, Krisen und Kutschfahrten. Dieses Projekt ist experimenteller.
Als Gegenstand für ihre einigermaßen wilde Collage aus Archivmaterial, Experteninterviews und Spielszenen hat sich die französische Filmemacherin ( "Ludwig II.", Marie Curie") einen Mann ausgesucht, der erst einmal wenig widerborstig wirkt. Heinrich Vogeler, der "Märchenprinz" von Worpswede, pflegte eine romantische Mittelalterfaszination, malte schlanke Männer, Frauen und Birken, Schlösser im Hintergrund, schönsten Weltflucht-Jugendstil. Er entwarf prächtige Interieurs, vom Wandpaneel bis zum Kaffeelöffel. Vogeler ist heute längst nicht der berühmteste Bewohner der norddeutschen Künstlerkolonie, war aber zu seiner Zeit wirtschaftlich der bei Weitem erfolgreichste. Das Bürgertum liebte ihn. Sein selbst zum Jugendstiljuwel umgebauter "Barkenhoff" war lange das Zentrum der Worpsweder Gemeinschaft. Rilke war sein Freund, er förderte Paula Modersohn-Becker.
Vogeler kritisierte Krieg und Kaiser und kam dafür in die Irrenanstalt
Die ersten Worpsweder Jahre des neuen Jahrhunderts hätten für sich schon einen schönen Kostümschmöker hergegeben: Allein 1901 gab es drei Hochzeiten in Worpswede, Vogeler und die Lehrerin Martha Schröder, Rilke und die Bildhauerin Clara Westhoff, die Modersohn-Beckers. Bald darauf gab es Verstimmungen zwischen Rilke und Vogeler, dann eine Schaffenskrise. Klaus Modick hat über diese Zeit 2015 den sehr erfolgreichen Roman "Konzert ohne Dichter" veröffentlicht. Mit Vogelers berühmtestem Gemälde "Sommerabend" von 1905, das nur noch auf den ersten Blick nach Idylle aussieht, war der Zenit der Kolonieseligkeit eigentlich schon überschritten.
Die Regisseurin gibt dem Impuls, hier ins Schwelgen zu geraten, der sicherlich vorhanden war, aber immer nur ganz kurz nach. Ihre Spielszenen sehen herrlich aus. Frühling im Moor, Künstlersoirée im Barkenhoff-Garten, und sie hat fantastische Schauspieler für sie gefunden. Florian Lukas, der seelenvolle Jedermann des deutschen Films ("Weißensee") spielt Vogeler hochsympathisch und verträumt. Anna-Maria Mühe hat ihm gegenüber eine wunderbare Skepsis als seine Frau Martha, und Johann von Bülow gibt Rilke als lustig hochtrabendes Genie, mehr der Selbstinszenierung als der Lyrik. Der Film, der hier nicht gemacht wurde, steht einem ziemlich klar vor Augen.
Aber es scheint, als habe Marie Noëlle ihr Vertrauen ins Genre des Kostümfilms verloren. Als Vogeler, Rilke und Paula Modersohn-Becker auf Inspirationsreise in Paris über eine Seine-Brücke schlendern, sieht man im Hintergrund den schwarzen Tour Montparnasse aufragen, Autos rauschen an ihnen vorbei. Vielleicht ist das ein Brecht'sches "Glotzt nicht so romantisch". Vielleicht soll es zeigen, dass Vogelers künstlerische Wendung hin zum Politischen, die er kurz darauf nimmt, ihn zu einem modernen Künstler macht. So ganz geht das nicht auf, die Kostümierten wirken im heutigen Paris ein bisschen, als wären sie auf einem Faschingsausflug.
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Aber das kaleidoskopische Konzept von Noëlles Film passt letztlich besser zu Heinrich Vogelers Leben, als man zu Anfang denken mag. Es gibt da nämlich noch einen zweiten, weit weniger bekannten Teil und eigentlich sogar noch einen dritten. 1914, genervt von der Gefälligkeit seiner eigenen Kunst und nach der Trennung von Martha, zieht Vogeler freiwillig in den Ersten Weltkrieg - wie viele Künstler seiner Zeit auf der Suche nach Klarheit und Reinigung. Er erkennt seinen Fehler, schreibt einen Essay voll schärfster Kritik an Krieg und Kaiser und kommt dafür in die Irrenanstalt.
Nach Worpswede kehrt er danach als veränderter Mensch zurück. Er wird Kommunist, übergibt den Barkenhoff der Dorfgemeinschaft, geht nach Moskau und malt die Komplexbilder seines Spätwerks: große bunte Prismen des Lebens, die aussehen wie sanft entideologisierter sozialistischer Realismus. Bald aber wird er auch vom Stalinismus enttäuscht und stirbt schließlich im Alter von 69 Jahren in einer kasachischen Kolchose, in die er nach dem Angriff der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion zwangsevakuiert worden war. Weiter weg vom hellgrün schimmernden Birkenlaub der verträumten Worpsweder Werke hätte er kaum kommen können.
Es ist diese Vielgestaltigkeit von Vogelers Leben, die Marie Noëlle in ihrem Film zeigen will, nicht nur inhaltlich, sondern eben auch formal. Manchmal schießt sie mit dessen kleinteiliger Struktur über dieses Ziel hinaus, mit den vielen Gesprächspartnern von der Psychoanalytikerin bis zu zwei Urenkelinnen des Künstlers und mit den historisch-modernen Brechungen innerhalb der fiktionalen Szenen. Aber erfrischend ist dieses Experiment, das der Gefälligkeit ebenso misstraut wie Vogeler in der Mitte seines Lebens, allemal.
Heinrich Vogeler - Deutschland 2022. Buch und Regie: Marie Noëlle, Bildgestaltung: Christoph Iwanow, Moritz Mössinger, Sabine Steckardt. Mit: Florian Lukas, Anna-Maria Mühe, Johann von Bülow, Naomi Achternbusch, Samuel Finzi. Farbfilm, 90 Minuten. Kinostart: 12. Mai 2022