Süddeutsche Zeitung

Verleihung des Heine-Preises an Rachel Salamander:In der Ruhe liegt Gefahr

Was als bekannt vorausgesetzt wird, kann man um so bequemer vergessen, warnt Publizistin Rachel Salamander. Eindrücke von der Verleihung des Heine-Preises.

Von Nils Minkmar

Bei aller bundesrepublikanischen Bescheidenheit ist es doch immer eine ziemliche Choreografie, wenn der erste Mann im Staat kommt. Erst ist es hektisch, dann sind alle plötzlich still und warten wie Kinder auf die Bescherung. Im Schauspielhaus Düsseldorf erlöste das Publikum dann eine freundliche Stimme, die ihn freundlich ansagte: "Meine Damen und Herren, der Bundespräsident!"

Es hatte etwas Heiteres, aber das war bloß der Beginn, denn so endete die Sache nicht. Tobias Koch stimmte schon darauf ein, als er Chopins Walzer in cis-Moll op. 64 Nr. 2 so interpretierte, als begleite er einen komplexen, urbanen Schwarzweißfilm oder einen komischen Traum, tastend und versuchend, in Brüchen und Fragmenten.

Dabei konnte doch alles so schön sein. Wenige Meter vor dem Präsidenten hatte Rachel Salamander den Saal betreten, begleitet von ihrem Mann Stefan Sattler und ihrem Bruder Beno, der, als sie Kinder waren, ihren Vater beim Elternabend der Grundschule in München vertreten musste, obwohl er nur wenig älter ist.

Rachel Salamander kam 1949 in Föhrenwald zur Welt, einem Lager für Überlebende des Massenmords an den europäischen Juden, damals ebenso ratlos wie treffend displaced persons genannt. Dort, wo kein Deutsch, sondern Jiddisch gesprochen wurde, verbrachte sie ihre frühe Kindheit. Deutsch lernte sie erst in der Schule. In Föhrenwald war sie unter Erwachsenen, die vor einer schrecklichen Vergangenheit flohen und einer ungewissen Zukunft entgegensahen. Die wenigsten wollten sie in Deutschland verbringen, sondern waren, wie Salamander es ausdrückt "hängengeblieben".

Jedes Kind war ein Versprechen auf eine bessere Zukunft für die Juden weltweit

Das war auch bei ihrer Familie der Fall, die Krankheit der Mutter verhinderte eine Auswanderung nach Israel. Mit den Jahren leerte sich das Lager, viele Familien suchten ihr Glück woanders, Rachel Salamander versuchte es in München. Sie spricht über Föhrenwald mit Zuneigung, denn die Kinder genossen dort einen besonderen Status, waren "Fleisch gewordene Hoffnung", und besonders in Föhrenwald gab es besonders viele davon. Jedes Kind war ein Versprechen auf eine bessere Zukunft für die Juden weltweit, eine Quelle der Freude und ein Triumph über den Mordwillen der Deutschen und ihrer Verbündeten. Dieser Rückhalt, die gesammelte Liebe der entwurzelten, traumatisierten Erwachsenen, hat ihr Selbstbewusstsein geformt, ihre Resilienz gefördert und ihr Denken bis heute geprägt: Die Individualisierung, die mit der Emanzipation einhergeht, bedeutet oft auch eine Schwächung.

Seitdem ist die Kommunikation, die Verbindung zu vielen Menschen und modern gesprochen das Netzwerken ein wichtiger Teil ihres Lebens. So wurde Rachel Salamander auf ihrer Reise nach Düsseldorf auch von vielen Freundinnen und Freunden begleitet. Sie wollte nicht "ganz allein irgendwo stehen" und ausgezeichnet werden, sondern sich mit alten und neuen Weggefährten freuen. Darunter sind die Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkéwicz, die CSU-Kulturpolitikerin Julia Lehner, der Historiker Dan Diner und viele andere. Einige waren schon dabei, als sie 1982 in München die Literaturhandlung eröffnete, der dann noch viele andere Buchhandlungen folgten.

Und einer fehlt, obwohl er fast täglich mit ihr in Kontakt stand, der 2013 verstorbene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Als sie ihm zum ersten Mal zu einer Lesung in ihre der jüdischen Literatur gewidmete Buchhandlung einladen wollte, wehrte er sich entschieden: "Ich lasse mich nicht wieder ins Ghetto sperren!" Sie überzeugte ihn dann mit dem Argument, dass es ihr nicht auf Herkunft ankommt, sondern auf Wirkung, auf das Leben und die Erfahrungen von Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft. Das wiederum passte exakt zur Lesart, die Reich-Ranicki immer wieder empfahl: Heine etwa nicht nur als deutschen Dichter, als Romantiker und Revolutionär zu lesen und zu deuten, sondern als Juden, der aus der Warte seiner Erfahrungen schreibt, eben mittendrin und doch nicht ganz zugehörig, eben ein "Ruhestörer" - das ist der Begriff, mit dem Reich-Ranicki Heine und andere in einem bis heute maßgeblichen Buch beschreibt. Rachel Salamander schrieb ein eigenes Kapitel in der deutschen Literaturkritik, als sie Chefin der "Literarischen Welt" wurde und dort von 2001 bis 2013 ein anspruchsvolles, aber auch engagiertes und unterhaltendes Blatt verantwortete.

Die Stadt, in der sie kaum je war, bereitet Salamander begeisterten Empfang

Heute, beklagte Salamander in einem Blogeintrag zum hundertsten Geburtstag Reich-Ranickis, ist er nahezu vergessen. Und das hat auch Folgen für die Wahrnehmung oder besser Nichtwahrnehmung jüdischer Literatur in Deutschland. Zumal ein Jahr später ihr Freund Frank Schirrmacher starb, dem diese Themen sehr wichtig waren und der eine bewegende Laudatio hielt, als sie den Schillerpreis der Stadt Marbach erhielt. Die Preisverleihung in Düsseldorf ist nach dem Schillerpreis 2013 und der Ehrenbürgerschaft in München 2019 ein weiterer besonderer Moment der Ehrung für Rachel Salamander, denn der Heine-Preis ist der inoffizielle deutsche Nobelpreis. Die Stadt, zu der sie nur wenige Verbindungen hat, wo sie kaum je war, hat ihr einen warmen, begeisterten Empfang bereitet.

Es könnte also eine märchenhafte Geschichte sein, wenn man den Weg von Föhrenwald bis ins Schauspielhaus Düsseldorf und einer engagierten, reflektierten Laudatio durch den Bundespräsidenten besieht. Frank-Walter Steinmeier hat sich wie immer Mühe gegeben und eine gelehrte, kluge und pointenreiche Rede vorgetragen. Aber er hat sie auch mit einer brisanten Botschaft verbunden. Er nutzt, wie häufiger in letzter Zeit, den Begriff der Heimat, aber es ist keine biedermeierliche, spießige Heimat, sondern eine, in der etwas los ist und zu der eben die Literaten, Dichter und Denker jüdischer Herkunft dazugehören. Klare Absage also an alle kulturellen Reinheitsfanatiker rechts der Mitte.

Rachel Salamander geht in ihrem Vortrag, der schlicht als Dankesrede angekündigt ist, mit der ihr aber eine bedeutsame politische und historische Meditation gelungen ist, nochmal andere Wege. Ihr Heine ist nicht nur der bewunderte Liebesdichter, der Balladenmeister und Revolutionär, sondern ein lyrisches Frühwarnsystem: Sein Begriff vom "deutschen Donner", der der ganzen Welt droht, weist schon früh auf die Möglichkeit des Massenmordes an den Juden durch deutsche Antisemiten hin. Es ist Heine der Ruhestörer, der heute angerufen wird und der die schöne Geschichte von der Ankunft der Juden in Deutschland unterbricht - aber nicht als historische Referenz, sondern als aktuelle Warnung und Ruhestörung.

Die Juden seien in die Defensive geraten, sagt Rachel Salamander

Und plötzlich, während man zuhört, wird wieder sichtbar, was man gesehen hat und nicht wahrhaben möchte: Die den Holocaust relativierenden Cartoons der "Querdenker" und Impfgegner; die Angriffe auf jüdische Menschen auf offener Straße; die geringe Teilnahme an den Demonstrationen gegen Antisemitismus; die um sich greifende Gleichgültigkeit gegenüber dem jüdischen Leben in Deutschland; die zunehmende Aggressivität der Debatten um Israel; der Aufwind der radikalen Islamisten durch die Machtübernahme der Taliban und die Niederlage des Westen. Oder die Sache mit der Tür der Synagoge in Halle zu Jom Kippur vor zwei Jahren. Wie zufällig es war, dass der versuchte Massenmord nicht glückte, und wie lange die Polizei für den kurzen Weg benötigte. Und wie viele Berichte über rechtsextrem Umtriebe in Bundeswehr und Polizei braucht es, bis man fragt, ob sich daraus ein Muster ergibt? Wie kann es sein, dass Geschichtsrevisionisten wie Björn Höcke wieder zu politischem Einfluss gelangt sind? Wie ist es denn bestellt um Bildung und Aufklärung bezüglich der jüdischen Geschichte, des Antisemitismus und des Massenmords an den europäischen Juden? Die spektakulären, schmerzhaften Serien und Filme wie "Holocaust" und "Schindlers Liste" sind Jahrzehnte alt. Was als allen bekannt vorausgesetzt wird, kann man um so bequemer vergessen.

Es ist 12 Uhr 50, als Rachel Salamander den Bundespräsidenten, den Oberbürgermeister Stephan Keller und das versammelte Publikum mit einer kurzen Frage schockt. Sie bezieht sich auf Heine, seine Weitsicht bezüglich der kommenden Gefahr und fragt sich selbst: "Was sehe ich nicht?" Denn die Juden seien in die Defensive geraten. Nie habe sie für möglich gehalten, dass ihr solches widerfährt. Statt eines Dankes für sich formuliert sie dialektisch einen Suchauftrag, das ist wieder ihr Glaube an die Kraft der beherzten Gemeinschaft: Tausend Augen sehen mehr als zwei, und gegen Antisemitismus müssen alle vorgehen, nicht nur die Juden.

Vor den großen Fenstern des Schauspielhauses liegt der Park im Dauerregen, dieser wässert Bäume, Rasen und tapfere Polizistinnen und Polizisten. Der Sommer ist vorbei.

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