Mediathek des Residenztheaters:Monströses im Stream

Pressebild zu RESI SENDET: BRUDER EICHMANN, Johannes Nussbaum, Thomas Lettow © Residenztheater

Schauspieler in einem Vergegenwärtigungsprozess: Johannes Nussbaum und Thomas Lettow in "Bruder Eichmann".

(Foto: Residenztheater)

Das Residenztheater in München eröffnet mit Sebastian Baumgartens Annährung an Heinar Kipphardts "Bruder Eichmann" seine Online-Mediathek.

Von Egbert Tholl

Eines war Sebastian Baumgarten klar: Beschäftigt man sich heute mit Heiner Kipphardts Stück "Bruder Eichmann", dann kann man es nicht einfach so inszenieren wie damals, 1983, bei der Uraufführung, wenige Monate nach dem Tod des Autors. Dann muss man sich herantasten. Und Baumgarten macht daraus eine Streamproduktion. Nun ist man zwar wieder am selben Ort, im Residenztheater, wo damals Dieter Giesing inszenierte und Hans-Michael Rehberg Adolf Eichmann spielte. Was aber nun passiert, ist eine Spurensuche, eine Aneignung, eine Annäherung. Deshalb berichtet im Stream erst einmal Johannes Schütz, damals der Bühnenbildner, von den Problemen der Bühnenbildgestaltung damals, deshalb baut Baumgarten auch ein paar Ausschnitte von den Proben 1983 ein.

Nach der Live-Präsentation im Marstall muss man sagen: Im Netz funktioniert es viel besser

Das Residenztheater beginnt mit dieser Produktion den Aufbau einer Online-Mediathek. Während der beiden Lockdowns hat das Haus viel fürs Netz produziert und hielt auch daran fest, als der Spielbetrieb wieder einigermaßen möglich war. Das soll nicht verloren gehen und wird peu à peu auf der Homepage präsentiert. Lesungen werden darunter sein wie auch Aufführungen, die fürs Netz entstanden sind. Und mit "Bruder Eichmann" kommt auch frische Ware hinzu. Eines lässt sich nach dessen Live-Präsentation im Marstall sagen: Im Netz funktioniert es viel besser.

Ist ja auch eigentlich gar nicht so live, letztlich trifft sich das Publikum zum gemeinsamen Stream-Gucken. Doch erst einmal geht man mit einem iPad auf einen Parcours, auf dem man an verschiedenen Stationen von dem Versuch erfährt, Eichmanns Flucht nachzuvollziehen. Im Marstall ist das ein Vorgang, der das Publikum miteinander in der Bewältigung technischer Probleme verbindet, danach, zu Hause vor dem Computer, funktioniert es reibungslos, hat aber immer noch eine gewisse Kümmerlichkeit. Bei Kriegsende tauchte Eichmann unter, wurde dennoch verhaftet, nicht erkannt, wechselte mehrfach seine Identität, entkam, lebte in Österreich, Deutschland und der Schweiz, floh schließlich mit Hilfe des Vatikans, des Roten Kreuzes, ehemaligen Gesinnungsgenossen und der argentinischen Regierung nach Argentinien, wo er nach zehn Jahren vom Mossad entdeckt und für den Prozess nach Israel gebracht wurde. Diese verschlungenen Wege kann man auf Google-Karten nachverfolgen, Google-Streetview zeigt einige der Orte heute, der Kommentar ist auf Österreichisch, Schweizerdeutsch (obwohl Eichmann in Genf war, wo kaum jemand Schweizerdeutsch spricht) und unübertitelt auf Spanisch. Das ist nicht mehr als eine Bastelei.

Viel aufregender ist das Hauptstück, Sebastian Baumgartens Einrichtung von Kipphardts Text fürs Netz. Die sieht man im Marstall auf Bildschirmen, schaut sie sich aber besser zu Hause auf dem Computer an. Eichmann, von 1939 bis 1945 Leiter des "Referats für Judenangelegenheiten" im Reichssicherheitshauptamt, war der Planungsstratege der Judenvernichtung. 1962 wurde er nach einem langen Prozess in Israel hingerichtet, fünf Jahre später begann Kipphardt mit der Arbeit an seinem Stück. Damals war die Bundesrepublik eine andere, saßen ehemalige Nazis an Schaltstellen des Staates. Die Wut darüber durchzieht, mitunter auch sehr plump, den Text, den Kipphardt lange liegen ließ und 1982 vollendete.

Für Kipphardt war die Sache klar: Im Kern geht es ihm um die Bereitschaft, im Rahmen einer vorgegebenen Ordnung ohne moralische Bedenken zu funktionieren. Der Bruder Eichmann könne jeder sein, der einfach nur gehorcht und in einem unmenschlichen System funktionieren will, damit rekurriert Kipphardt auf Hannah Arendt und ihren berühmten Prozessbericht von der "Banalität des Bösen". Er sichtete tausende Seiten Prozessakten und baute daraus lange Gespräche zwischen Eichmann und dem ihn verhörenden Polizeihauptmann Leo Chass, schob in einem etwas problematischen Furor Analogien dazwischen - die Piloten beispielsweise, die die Atombombe über Nagasaki abwarfen, hätten auch nur Befehle ausgeführt.

Diese Analogien lässt Baumgarten gottlob gleich weg, sie würden das Herantasten zusätzlich erschweren. Man sieht Thomas Lettow (Chass) und Johannes Nussbaum (Eichmann) im Gespräch, auf einer Probebühne, im Tonstudio. Keiner der beiden verkörpert seine Figur, teilweise lesen sie den Text auch einfach ab. Sie sind keine Stellvertreter, sie sind Schauspieler in einem Vergegenwärtigungsprozess, der auf verschiedenen Zeitebenen stattfindet, im Krieg, 1962, 1967, 1982, heute. Immer von heute aus betrachtet.

Es ist faszinierend zu erleben, wie Nussbaum ohne jede Anverwandlung diesen Eichmann als auskunftsfreudigen Täter, der sich nie als Täter sieht, als Phänotyp des Funktionierens plastisch werden lässt. Zugeschaltete Kipphardt-Experten wirken dagegen nutzlos, Gastauftritte aus dem Ensemble - Gefängnisdirektor, Anwalt (furchterregend: Lukas Rüppel) und die in diesem Kontext irritierend sexy ausgeleuchtete Carolin Conrad als Psychologin - sind dagegen erhellend. Man sieht viele Originaldokumente, es weht ein Anflug von Historizität über den Bildschirm. Aber den verscheucht Nussbaum. Es ist ein hartes Abmühen, letztlich zwingend notwendig.

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