Süddeutsche Zeitung

Heimkonzert:Chaconne in Turnschuhen

Der Pianist Igor Levit streamt jeden Abend gegen die Einsamkeit an.

Von Alex Rühle

Über seiner Twitter-Seite steht seit einigen Tagen "No fear", ein Zitat aus einem Nina-Simone-Interview: "Ich sag Ihnen, was Freiheit für mich bedeutet: keine Angst zu haben."

Igor Levit setzt jetzt also seine Kunst dezidiert gegen die Angst. Gegen unser aller Vereinzelung, Kleinmut und Ratlosigkeit in Zeiten, in denen tatsächlich die Freiheit eingeschränkt wird wie nie zuvor. Seit vier Tagen spielt der Pianist jeden Abend, pünktlich um 19 Uhr, kurz nach Einbruch der Dunkelheit ein "Hauskonzert". Mal aus seinem Wohnzimmer. Mal aus einem Münchner Bühnenraum. Mal strumpfsockig, mal in klobigen Sneakers, Pulli und Jeans. Jedes mal eine Komposition. Live auf Twitter.

Bisher waren das Beethovens Waldsteinsonate und Appassionata, Bachs riesig ausladende Chaconne in Brahms' Klavierbearbeitung und Frederic Rzweskis 36 Variationen von "The People United will never be defeated!". (Auf Twitter einfach @igorpianist folgen; wer keinen Account hat, kann es hier ansehen, auch im Nachhinein, auch querbeet: https://www.pscp.tv/igorpianist/1gqxvEMADRBJB). Kurze improvisierte Ansprachen vorab, auf Deutsch und Englisch. Es gibt keinen Plan, er spielt, wonach ihm an dem Tag gerade ist, was ja ebenfalls zur momentanen Situation passt, in der die ganze Welt unter vollen Segeln in völlig unbekanntes Terrain segelt und keiner weiß, was morgen gilt. Über die Chaconne sagte er: "Ein Werk, voller Trauer und Einsamkeit, ein lebensfeierndes Werk, das mittendrin auch so etwas spendet wie Trost." Dann geht es los.

Ja, und jetzt würde normalerweise irgendwas Geschmäcklerisches kommen über die Interpretation oder den Klang. Der ist tatsächlich eher so mittel, das Ganze wird ja in irgendeinem vollgekruschten Probenraum mit dem Iphone aufgenommen, und man selbst hört am Schreibtisch zu, am Rechner, was am Ende streckenweise zu einem Klang führt, als würde einem einer durch ein mehrfach gebogenes Ofenrohr vorspielen.

Aber das ist egal. Worauf es ankommt, ist, dass da einer Kunst macht, um zu trösten. Um während dieser unfreiwilligen Vereinzelungserfahrung ein Gemeinschaftsereignis zu erzeugen. Der Chaconne in Turnschuhen hörten über 200 000 Leute zu. Bach hat sie komponiert, nachdem er 1720 von einer dreimonatigen Reise zurückgekehrt war und auf der Türschwelle erfuhr, dass seine Frau wenige Tage vor seiner Rückkehr gestorben war. In die Chaconne sind einige Choräle eingelagert, "Befiel Du Deine Wege" genauso wie "Jesu, meine Freude". Ein Abschied und ein komponierter Selbsttrost.

Man muss das nicht wissen, die Musik klingt auch ohne das Wissen darum wie ein erlösendes Gebet. Und Rzewksis Variationsfeuerwerk auf den chilenischen Widerstandssong "El pueblo unido", diese Hymne der Solidarität, hat man Tage später plötzlich wieder im Ohr, beim Frühstück, Söder klingt grad wie Churchill 1940, Blood, Sweat und Viren, da schleicht sich dieses zuversichtlich vor sich hin stapfende Motiv ins Gehirn: United we stand, da damm da damm da damm.

Am Ende steht Igor Levit jeweils auf, ein fast schüchternes Lächeln im Gesicht und verschwindet seitwärts aus dem Bild. Es bleiben ein leerer Stuhl und Stille. Aber die ist so viel besser zu ertragen als noch eine halbe Stunde zuvor.

Oh, dann dieser Tweet: am Montag kein Hauskonzert. Stattdessen im menschen- leeren Münchner Nationaltheater Beethovens Diabelli-Variationen. Ganz große Oper, alleine, für alle.

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Quelle:
SZ vom 17.03.2020
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