Normalerweise schlägt der Leiter eines literarischen Archivs ja eher Alarm, wenn es seinem Haus an den Kragen geht. Das Kleist-Archiv Sembdner jedoch soll nicht schließen. Im Gegenteil: Die Stadtverwaltung von Heilbronn hat sich für den Fortbestand der Einrichtung entschieden, wenn der Leiter Günther Emig im Oktober nach 27 Jahre in Rente geht. Trotzdem wendet er sich zum Abschied mit einer gepfefferten Kritik an die Öffentlichkeit. Die Pläne der Stadt für das Archiv - neue Kooperationen, neue Geldquellen, neue Projekte und Veranstaltungen - hält er für irrational: "Mein Gott, selten so gelacht! Hat da eigentlich irgendjemand auch nur im Ansatz begriffen, wovon er redet und worum es eigentlich geht?"
Also worum geht es? Heinrich von Kleist hievte Heilbronn 1808 auf die literarische Landkarte, als Auszüge aus seinem Schauspiel "Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe" erstmals erschienen. 1991 entschloss sich die Stadt, diese prominente Verbindung zu nutzen, indem sie die Sammlung von Helmut Sembdner, einem bedeutenden Kleist-Forscher, übernahm und drumherum das Kleist-Archiv gründete. Mit Büchern wie "Heinrich von Kleists Lebensspuren" und "Nachruhm" hat Sembdner (1914-1997) die Rezeption des Dichters bis heute geprägt. So ließ sich die Heilbronner Verwaltung seine Sammlung damals auch 50 000 Mark kosten. Viel zu viel, wie Archivleiter Günther Emig rückblickend meint. "Die Stadt ist da reingestolpert", sagt er. Das Gekaufte sei als Kleist-Sammlung wertlos gewesen. Werkausgaben, Sekundärliteratur, praktisch keine Unikate. "Es ist nur und ausschließlich etwas für die wenigen, die zum Thema Kleist arbeiten und sich informieren wollen."
Der Leiter drückt es unmissverständlich aus: "Das Kleist-Archiv Sembdner kann nicht weitergeführt werden." In Heilbronn fehle das geisteswissenschaftliche Umfeld, eine Universitätsbibliothek etwa oder ein germanistisches Institut. "Weil man sonst nämlich für jede noch so scheinbar nebensächliche Frage zum Nachschlagen eine Dienstreise nach Marbach oder in die Landesbibliothek Stuttgart machen muss." Gleichzeitig dürfe die Sammlung - die Stadt schätzt ihren Umfang auf rund 250 Regalmeter - aber auch nicht verrotten. Aus diesem Grund plädiert Günther Emig dafür, sie als Dauerleihgabe abzugeben. Und zwar nach Frankfurt (Oder), in die Geburtsstadt des Dichters, die ein ganzes Kleist-Museum betreibt. Doch auch dort macht sich die überschaubare Überlieferung von Kleist-Originalen bemerkbar. Neun Kleist-Handschriften werden im Frankfurter Museum verwahrt, während in Heilbronn keine einzige lagert. Deswegen hat Günther Emig die Wirkungsgeschichte Kleists in den Mittelpunkt seiner Archivarbeit gerückt. Gleichzeitig hat er im Laufe seiner Dienstzeit viel zum Thema publiziert, etwa in der Zeitschrift Heilbronner Kleist-Blätter, und so die Einrichtung in der Fachwelt bekannt gemacht.
Der Direktor mahnt zum Abschied: "Macht ein vernünftiges Literaturhaus daraus."
Seit dreißig Jahren sind Heilbronn und Frankfurt (Oder) Partnerstädte - vor allem dank der Kleistschen Vorgeschichte. Ein Wechsel des Archivbestands an die Oder steht nicht zum ersten Mal im Raum. Schon 2003 hatte der damalige Heilbronner Oberbürgermeister die Sammlung dem Kleist-Museum angeboten, um den Haushalt der Stadt zu entlasten. Allerdings scheiterte das Vorhaben am Gemeinderat, der einen Umzug ablehnte. Damals wie heute wäre der Bestand in Frankfurt (Oder) sehr willkommen gewesen. "Wir würden uns freuen", sagt die Museumsdirektorin Hannah Lotte Lund. Die Sammlung sei ein Schatz für die Kleist-Forschung. Sie habe zwar keinen antiquarischen, aber einen großen inhaltlichen Wert. Der taugt jedoch nur bedingt zum Publikumsmagneten. "Ich hatte im vergangenen Jahr genau drei Besucher", sagt Günther Emig. Schon seit Jahren habe er der Verwaltung gepredigt: "Macht lieber ein vernünftiges Literaturhaus daraus." Doch seine Worte seien in den Gängen des Rathauses ungehört verhallt: "Über all die Jahre hin hat sich niemand, wirklich niemand aus der Verwaltung für das Kleist-Archiv Sembdner und seine Arbeit ernsthaft interessiert."
In der Stadtverwaltung sorgen die harschen Abschiedsworte des Archivleiters für Überraschung. "Die Kritik von Herrn Emig haben wir mit großem Unverständnis zur Kenntnis genommen", sagt Agnes Christner, die als sogenannte Sozialbürgermeisterin zuständig für die Einrichtung ist. Es habe einen offenen Austausch und viele Gespräche gegeben. "Die Auffassung von Herrn Emig, dass das Archiv nach seinem Ausscheiden nach Frankfurt (Oder) gegeben werden sollte, war uns bei der Entscheidungsfindung bekannt." Nun ist die Entscheidung gefallen: Die Sammlung soll in Heilbronn bleiben, "als Grundstock für eine Neuausrichtung". Gleichzeitig schreibt die Stadtverwaltung die Stelle des Leiters aus - wenige Wochen, bevor Emig in Rente geht. "Wir haben überhaupt keinen Zeitdruck", sagt die Sozialbürgermeisterin. Am 23. August tritt Günther Emig seinen Resturlaub an. Dann übernimmt eine Amtsleiterin die Schlüssel und das Archiv ist im Prinzip führungslos. Doch in den Augen des scheidenden Leiters macht es sowieso keinen Unterschied, wer auf dem Chefsessel Platz nimmt: "Es ist egal, wen sie da hinsetzen - es ist verlorene Liebesmühe."