Süddeutsche Zeitung

Ausstellung in München:Räumen die Haut abziehen

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Mit der Akribie eines Hannibal Lecter arbeitet die Schweizer Bildhauerin Heidi Bucher an der Architektur. Sie war fast vergessen, jetzt wird sie im Münchner Haus der Kunst wiederentdeckt - ausgerechnet dort.

Von Catrin Lorch

Die schmale, langhaarige Frau kniet vor der Fensterbrüstung, sie tastet die hölzernen Kassetten ab, bis sich etwas lockert am Rahmen. Doch es ist weder das Holz noch das Glas, das sie dann mit einem Ruck abreißt - was sie in beiden Händen hält, wirkt, als habe man dem Raum die Haut abgezogen. Heidi Bucher hebt das meterhohe Stück kurz in die Luft, löst eine weitere Ecke ab, arbeitet sich die Wand entlang. Der Film folgt ihr, aber wer sich umschaut, im kleinen Saal des Ostflügels im Münchner Haus der Kunst, der begreift, dass die hohen Bahnen, die hier zum Geviert gehängt und als "Herrenzimmer" (1978/82) betitelt sind, so entstanden. Dass sie nicht gemalt sind, kein Bild sind und auch keine Kulisse - sondern der Abdruck eines Raums, so akkurat und präzise wie ein Negativ oder die Abformung eines Reliefs. Dabei zart wie Pergament und funkelnd wie Bernstein. Im Abdruck der hölzernen Kassettenwände, von Türrahmen und wuchtigen Fensterlaibungen, scheint vergangenes Leben eingeschlossen - als wären die Bahnen getränkt mit den Gepflogenheiten und Konventionen konservativer Familienverhältnisse, in denen sich die Männer zum Rauchen ins getäfelte "Herrenzimmer" zurückziehen, während Frauen und Kinder in der Küche verschwinden.

Ihr Werk ist dem von Bruce Nauman oder Gordon Matta-Clark verwandt

"Herrenzimmer" ist nun zum ersten Mal seit Jahrzehnten in einer Ausstellung zu sehen. Doch bei allem Erstaunen wirkt es seltsam vertraut - als betrete man ein Seitenkabinett der Kunstgeschichte, das man selbst womöglich einfach übersehen hatte. Die Szene, Museen, Kuratoren, Ausstellungsmacher und Sammler, hatten den Namen "Heidi Bucher" tatsächlich vergessen. Jetzt prangt er auf der Fassade in München in hohen Lettern, und das Werk hat im Haus der Kunst einen Ort gefunden, der so geeignet ist wie kein zweiter für eine Wiederentdeckung, die sie endlich als Bildhauerin und Konzeptkünstlerin im Kanon verankern wird. Heidi Buchers stringentes Konzept macht sie zu einer singulären Figur auch im Rahmen der experimentierfreudigen Siebzigerjahre, durch ihre eigenständige Beschäftigung mit Raum und Architektur ist sie durchaus Künstlern wie Bruce Nauman oder Gordon Matta-Clark verwandt.

Die im Jahr 1926 in Winterthur geborene Heidi Bucher, die in Zürich eigentlich Mode- und Textildesign studierte, wurde früh von Johannes Itten unterrichtet, einem der bedeutendsten Kunstpädagogen des 20. Jahrhunderts, dem Bauhaus-Meister, dessen ganzheitliche Pädagogik im Vorkurs der Bauhaus-Lehre Generationen von Künstlern entscheidend beeinflusste. Obwohl Bucher zunächst Materialien wie Seide oder Tüll verwendete, zeigen ihre frühesten Entwürfe schon, dass es der Künstlerin um mehr als Zuschnitt, Rapport und Muster ging - ihre Studien mit Aluminium, Holz und Pappe wirken vor allem bildhauerisch.

Aus der Beschäftigung mit Textil, Kostüm und Raum entstanden dann in Kanada und den USA - wo sie mit ihrem Mann Carl Bucher lebt - erste Skulpturen, die "Bodyshells" (1972). Diese waren inspiriert von Schnecken und Muscheln und Meerestieren, aber wer als Performer in so ein Kostüm aus Stoff und Schaumstoff schlüpfte, verschwand darin wie in einer Blumenvase. Ein Film, der in der Retrospektive wie eine Ouvertüre noch vor den monumentalen Abformungen gezeigt wird, dokumentiert die Probe einer Performance für das LACMA-Museum in Los Angeles auf dem Sand von Venice Beach: Die gewaltigen hellen "Bodyhells" schwanken fast tänzerisch vor der Brandung herum, ab und an erscheinen Kopf oder Arme der Performer wie die Glieder eines Einsiedlerkrebses. Das Monumentale dieses Werks deutet sich hier schon genauso an wie seine Menschlichkeit. Denn immer wieder eröffnet es die Möglichkeit, sich auch ganz anders anschauen zu lassen: als Kostüm, als abgetretener Boden, als Türrahmen.

Die "Häutungen" zielen auch auf die Herrschaftsansprüche, die sich in Architektur abbilden

So ist der Eindruck des Hauptsaals, der sich anschließt, zwar überwältigend - aber auszuhalten. Dort haben die Kuratorinnen Jana Baumann und Luisa Seipp die Abformungen von Fußböden ausgelegt, gehängt und von der Decke schweben lassen. Fast wirkt es, als habe man den gewaltigen, eigentlich auf die überwältigenden Maße von nationalsozialistischer Kunst abgestimmten Ausstellungsraum spielerisch beflaggt. Die Abdrücke von Brettern und Nägeln erscheinen auf Augenhöhe vor dem Betrachter, das Raster eines Holzparketts wirkt dadurch wie ein kompliziertes Muster. Fliesen, Kacheln, Holztäfelchen zeichnen sich in leichten Linienverläufen ab, lösen sich im Gekästel auf. Heidi Buchers Abformungen haben aber - bei aller Schönheit - durchaus etwas von der Kälte, mit der man Blätter, Mäuse oder Organe im Labor seziert und konserviert, das, was lebendig ist, zurichtet für die Betrachtung. Mancher Betrachter erinnert sich vielleicht auch an die grausame Liebe eines Hannibal Lecter im Film "Schweigen der Lämmer".

Wie präzise diese Bahnen sich auch wieder zur Architektur zusammenfügen lassen, zeigt sich dagegen in den kleinen Räumen. Dort kann man nicht nur das "Herrenzimmer" betrachten, das Teil von Buchers Elternhaus war, sondern auch das "Ahnenhaus" (1980 bis 1982) ihrer Großeltern. Es war eine kluge Idee der Kuratorinnen, diesen "Häutungen" die zuvor noch nie öffentlich gezeigten Filme beiseitezustellen, die ihre Herstellung dokumentieren: Die Konzentration und fast rituelle Ruhe, mit der die Künstlerin ihrem Handwerk nachgeht, macht spürbar, dass es Heidi Bucher um mehr ging als nur Skulptur. Die "Häutungen" zielen als Interventionen auch auf die Herrschaftsansprüche, die sich in Architektur abbilden. Heidi Bucher verteilte Latex, Kleister und Stoffbahnen nicht nur im Haus der Großeltern, sondern auch in dem Zimmer, in dem die durch Sigmund Freud berühmt gewordene vermeintliche Hysterie-Patientin Anna O. therapiert wurde, die spätere Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim. Das Eingangsportal des Grand Hotel Brissago am Lago Maggiore wählte die Künstlerin wiederum deswegen aus, weil dort während der Herrschaft der Nationalsozialisten jüdische Kinder und Frauen interniert waren. Die Geschichte des von den Nationalsozialisten als Galerie gebauten Haus der Kunst gibt diesen Werken einen Rahmen, wie er spannungsvoller nicht sein könnte.

Das so geschichtsbewusste, hellwache Œuvre der Heidi Bucher wäre wichtig gewesen im Zusammenhang mit den Debatten um Erinnerungskultur in den Neunzigerjahren und im Kontext der feministisch-aktivistischen Arbeit von Künstlerinnen nach der Jahrtausendwende. Doch ist es fast müßig zu diskutieren, warum eine Bildhauerin Opfer der Amnesie einer so neuigkeitssüchtigen wie vergesslichen Kunstszene wurde, obwohl sie bis zu ihrem Tod 1993 von Galerien, Museen oder Off-Spaces gezeigt wurde und mit Künstlern wie Ed Kienholz in enger Freundschaft verbunden war. Denn jetzt hat ihr Werk einen Sockel gefunden, der so geeignet ist wie kein anderer: Das Münchner Haus der Kunst hat sich seit einigen Jahren um das Werk von Bildhauerinnen verdient gemacht, seit Okwui Enwezor mit einer Ausstellung von Louise Bourgeois auch die monumentalen Säle für Künstlerinnen öffnete. Die damals gezeigten Zimmer, Käfige und Kulissen der großen französischen Künstlerin spielen wie die Arbeiten von Heidi Bucher mit der Materialität und dem authentischen Charakter von Interieurs. Im Haus der Kunst wurden Malerinnen wie die Amerikanerin Kiki Smith gezeigt oder Marlene Dumas. Und vor allem die unmittelbar vorangegangene Ausstellung zum Werk der Britin Phyllida Barlow hat das Publikum schon mal vertraut gemacht mit der unbefangenen Experimentierfreude einer Generation von Nachkriegskünstlerinnen, die mit einfachen Materialien arbeiten, die Performance und Ritual in die Bildhauerei einbringen und auf einer weiblichen Subjektivität beharren. Wenn sich also eine Tür in die Kunstgeschichte öffnen kann für dieses außerordentliche Œuvre der Heidi Bucher, dann ausgerechnet dort, im Haus der Kunst in München.

Heidi Bucher. Metamorphosen. Bis 13. Februar im Münchner Haus der Kunst . Die Ausstellung wird anschließend im Kunstmuseum Bern gezeigt (8. April bis 7. August 2022), danach vom 9. Juli bis zum 11. Dezember im Muzeum Susch. Der Katalog erscheint am 25. Oktober und kostet 60 Euro.

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