Hegemann: "Axolotl Roadkill":Sex, Lügen und Bücher

Als Wunderkind der Bohème reicht es nicht, den schärfsten Sex zu haben und die härtesten Drogen zu nehmen. Man muss schon auch Foucault zitieren können.

Lothar Müller

Irgendwann in den neunziger Jahren waren sie plötzlich allgegenwärtig: die Hochbegabten. Jeder, der heranwachsende Kinder hat, konnte erleben, wie sie sich unaufhaltsam vermehrten. Mit glänzenden Augen berichteten Mütter und Väter an Elternabenden von den Symptomen, an denen sie erkannt hatten, dass auch ihr Kind dazugehörte. Schulische Glanzleistungen waren dazu nicht unbedingt erforderlich.

Die Wissenschaft hatte Fälle entdeckt, in denen sich hinter einer Schulverweigerung oder hartnäckigen Konzentrationsschwäche eine unerkannte Hochbegabung verbarg. Im Umkehrschluss begannen immer mehr Eltern als Ursache einer "Verhaltensauffälligkeit" ihrer Kinder die Unterforderung ihrer Intelligenz im normalen Schulunterricht in Erwägung zu ziehen. Das war für die Lehrer manchmal sehr anstrengend. Oft aber auch für die Kinder.

Phantasma der Verpuppung

Die Figur des unangepassten hochbegabten Kindes erlebte ihren Aufschwung im bürgerlichen Mainstream-Milieu, als Phantasma der Verpuppung. Mit nicht nachlassender Hingabe taten die Eltern alles, um den Durchbruch der unreglementierten Pippi-Langstrumpf-Intelligenz in ihren Sorgenkindern zu befördern. Ein Teil des Bürgertums aber war geradezu prädestiniert, das neue Rollenmodell ins Extrem zu treiben: das anti-bürgerliche Bürgertum, die intellektuelle und ästhetische Bohème.

Deren Musterschüler heißen nicht Musterschüler, sondern Wunderkinder. Sie sind nicht darauf angewiesen, Abitur zu machen. Denn die ästhetische Bohème ist als soziales Milieu längst stark genug, um Karrieren auch ohne Schulabschluss garantieren zu können. Sie ist der Hauslehrer ihrer Kinder. Denn sie hat studiert und manchmal sogar eine Festanstellung als Professor in Leipzig. Gerade hat sie zwei ihrer Wunderkinder auf den Laufsteg geschickt: die junge Autorin Helene Hegemann, die soeben 18 geworden ist, und die Hauptfigur ihres Romans "Axolotl Roadkill": die sechzehnjährige Schulschwänzerin Mifti, die mit geradezu streberhafter Energie das Ideal des unangepassten, hemmungslosen und zugleich altklug-frühreifen Teenagers bis zur Selbstzerstörung verkörpert.

Man muss nicht lange in diesem Buch gelesen haben, um zu begreifen, dass die studierte Bohème ihre Kinder nicht minder fest im Griff hat als je das Mainstream-Bürgertum die seinen. Wer will, mag es der Verlagswerbung glauben, dass hier von einer Welt erzählt wird, "die sich von allen Konventionen befreit hat" und in der Kinder, die nicht erwachsen werden wollen, der Welt der Eltern als unbegreifliche Herausforderung gegenüberstehen. Aber dieses Buch ist gerade nicht das Dokument eines Generationenkonfliktes. Es ist das Dokument eines in sich abgeschlossenen Milieus, in dem die Generationsunterschiede im Innern verblassen zugunsten der gemeinsamen Abgrenzung von jener fernen Außenwelt, in der "viele kleine freundliche Menschen zur Arbeit gehen oder Creamcheese-Bagel essen".

Sex zu Bibi Blocksberg

In dieser Außenwelt gibt es gleichaltrige Teenies, die zwar auch schon Sex haben, aber noch Bibi Blocksberg-Kassetten hören und Bravo lesen. In der Innenwelt unterhalten sich die Teenies mit dem meist abwesenden Vater darüber, "dass es ihnen allen Schwierigkeiten bereitet, die Begriffe Signifikat und Signifikant auseinanderzuhalten". Denn es reicht als Wunderkind in dieser Innenwelt nicht, dem schärfsten Sex und den härtesten Drogen gewachsen zu sein, die raffinierteste Playlist "mit total abstrusen, unbekannten Songs" zusammengestellt zu haben und sich in den angesagtesten Clubs auszukennen. Es reicht auch nicht aus, an möglichst viele Wörter ein "mega", "pseudo", "super" oder "mäßig" anzukleben.

Man muss zudem ein Theorie-Junkie sein, sich an Michel Foucault die Zähne ausgebissen haben und die Dämonen der Programmhefte und die Titel sprachphilosophischer Bücher zitieren können: "die Aufregung darüber, dass der Begriff des Hundes nicht bellt, steht mir offensichtlich gut." Einmal spricht das Wunderkind im Buch von sich selbst als einem Kampfhund. Die Spezialdisziplin dieses Pitbull ist das Apportieren abgenagter Theorie-Knochen.

Zum pädagogischen Spielzeug für Kinder in den ersten Lebensjahren gehören die bunten Boxen, aus deren Seitenflächen Trapeze, Kreise, Rechtecke und andere geometrische Formen herausgefräst sind. Die Kinder müssen die passenden Klötzchen zu den ausgestanzten Löchern finden. An diese bunten Boxen erinnert die Art und Weise, wie die altkluge und hochbegabte Heldin in "Axolotl Roadkill" mit ihren Textbausteinen umgeht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum auch die anti-bürgerliche Bohème nicht will, dass ihre Kinder auf ihre Herkunftswelt kotzen.

Das schreibende Wunderkind

Während sie an den wildesten Exzessen teilhat, die es in Berlin gibt, muss sie nebenbei andauernd Theoriefragmente und ein ganzes Lexikon möglichst abstrakter Begriffe und auskennerischer Sentenzen in die Berichte hineinbugsieren, die sie von ihrem wilden Leben gibt: "Die überdimensionale Neutralität der Situation interessiert mich nicht." "Das Wohlwollen gegnüber dem Modell macht nicht das Funktionieren des Modells aus." "Ihre Kunstsammlung wird von Genre- und Landschaftsmalerei dominiert, religiöse Motive und die sich seit den siebziger Jahren verstärkende Moderne-Post-Moderne-Diskussion fehlen fast völlig."

Linke, durchsetzungsfähige Arschlöcher

Der Vater der Autorin des theoriebeflissenen Buches, Carl Hegemann, ehemals Dramaturg an der Volksbühne in Berlin, jetzt Professor in Leipzig, legt Wert darauf, mit dem Vater der Heldin des Buches ("eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und in der Auguststraße wohnen") nicht verwechselt zu werden. Es wäre das auch in der Tat ungerecht. Denn seine Musterschülerin ist seine Tochter. Die Figur, die diese Tochter erfunden hat, ist nur eine Puppe, die im Spiel das Leben leben muss, von dem die finsteren Theorien des Exzesses und der Hure Babylon-Berlin träumen.

Denn in Wahrheit will auch die anti-bürgerliche intellektuelle Bohème nicht, dass ihre Kinder auf ihre Herkunftswelt kotzen und an Drogen zugrundegehen. Auch sie arbeitet, wie das Mainstream-Bürgertum, an der Karriere ihrer Kinder. Aber der Stolz auf das schreibende Wunderkind wächst in dem Maße, in dem es hochbegabt, kulturell erfolgreich und und zugleich in der Lage ist, aus lauter Worten eine Puppe zu basteln, die auf ihre Familie kotzt, sich mit Drogen volldröhnt und der es überhaupt nichts ausmacht, die Produkte der Kinderpornographie-Industrie zu konsumieren.

Es wimmelt von Zitaten

Die eigentümliche Mischung von Jugendslang, Obszönität und lexikalisch gestelzter, in steifem Satzbau daherkommender Begriffssprache findet viele Bewunderer. Das hat mit der Theorie zu tun, die das Buch in einer seiner vielen Gesten von Beflissenheit gegenüber den Kategorien und Begriffsmoden der Erwachsenen apportiert: "Dieser Roman folgt in Passagen dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität." Das soll heißen: es wimmelt von - nicht immer ausgewiesenen - Zitaten. Das tun viele Bücher, gute wie schlechte. Die besseren zücken so prätentiöse Visitenkarten eher nicht.

Erstaunlich ist in diesem Fall die prompte Bereitschaft des Publikums, hinter der "Intertextualität" sogleich ästhetische Souveränität zu vermuten und mindestens Büchner, Brecht und Thomas Mann als Schutzheilige der jungen Autorin zu bemühen. Es gibt aber seit je nicht nur aus ästhetischer Souveränität und Unbedenklichkeit geborene "Intertextualität", sondern auch die aus der Not geborene, die panische Kompilation. Ein solches Zusammenraffen aller möglichen fremden Textbausteine kann auch Wunderkindern beim Anreichern eines Manuskriptes helfen, auf dessen Fertigstellung ein Verlag - oder ein ehrgeiziger Vater - drängt.

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