Echte Teenager-Gefühle
Dieses aufregende Kribbeln, wenn man das erste Mal die Hand des anderen berührt, ein Blick genügt, für einen Moment stoppt das Herz. In der britischen Netflix-Serie "Heartstopper" funkeln genau in dem Moment dann Sterne und kleine Herzen explodieren - wie in der gleichnamigen Comic-Vorlage von Alice Oseman, die eine große queere Fangemeinde begeistert. Aber sie ziehen nichts ins Lächerliche, sondern unterstreichen lediglich das, worum es eigentlich geht.
Seit bekannt ist, dass Charlie (Joe Locke) schwul ist, wird der 15-Jährige an der Jungenschule Truham Grammar School gemobbt. Und nun verliebt er sich ausgerechnet in Nick (Kit Connor), der ein cooler Rugby-Spieler ist und scheinbar so ganz anders als er selbst. Aber was, wenn Nick nicht schwul ist? "Heartstopper" behandelt die Sexualität von Teenagern und das Gefühl, sich das erste Mal zu verlieben, auf unverkrampfte Weise. Die Figuren sind schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell und wirken nicht aus dem Modelkatalog zusammengecastet. Mal wirkt der dröge Alltag wie ein graues Tiefdruckgebiet, mal scheint die Welt in Regenbogenfarben getaucht. Auch die Beziehungen sind glaubwürdig. Besonders schön sind die peinlichen Situationen zwischen Nick und Charlie, etwa wenn eine Umarmung erst krampfig ist und dann richtig unangenehm ausartet. Kurze Dialoge, bunte Bilder und die Comic-Effekte unterstreichen die Verspieltheit der Serie, außerdem der Soundtrack mit Chvrches und der LGBTQ+-Sängerin Girl in Red.
Verglichen mit der düsteren, gewaltvollen und berauschenden Welt der Drogenexzesse aus der gehypten High-School-Serie "Euphoria", ist "Heartstopper" harmlos, beinahe niedlich. Mit 15 werden hier keine Drogenpartys geschmissen, die Jugendlichen treffen sich mit ihren Hunden im Park und abends liegen sie zu Hause im Bett und überlegen sich den nächsten Instagram-Post. Das dürfte mit dem Alltag der meisten Teenager dann doch mehr zu tun haben als das toxische Beziehungsnetz in "Euphoria". Und dann spielt ausgerechnet Oscarpreisträgerin Olivia Coleman Nicks einfühlsame Mutter - das macht "Heartstopper" endgültig zum eskapistischen Wohlfühlort. Eva Goldbach
Jazz wie ein Starenschwarm
Streicher sind im Jazz so eine Sache. Meist zu kitschig, zu überladen oder zu ambitioniert. Aber wenn es dann mal funktioniert, können sie einen einzigartigen Schwebezustand erzeugen. Der Trompeter Nils Wülker hat das geschafft. Sein neues Album "Continuum" hat er zusammen mit dem Münchner Rundfunkorchester des BR eingespielt. Wenn man sich da nur einen Moment herausgreifen will, wäre das die Ballade "Nika's Dream". Die beginnt mit Streichern, die sich auf ein feinseidiges Lodern beschränken, über das Wülker auf dem Flügelhorn seine Linien entspinnt, um dann in den Gesamtklang einzutauchen. Ein Bild dazu? Wären diese Starenschwärme, die sich in immer neuen Formationen über Landschaften in die Lüfte schwingen, um dann in einer Wolkenformation zusammenzufinden. Kitschig? Nein. Perfekte Ästhetik. Andrian Kreye
Blutige Lebenslinie: Graphic Novel über Putin
Putins Karriere im Schnelldurchlauf - als Graphic Novel. Von den Hinterhofprügeleien des jungen Wladimir, der als wilder Kämpfer beschrieben wird, der biss und kratzte, dem jedes Mittel recht war, wenn ihn jemand angegriffen oder beleidigt hatte, über den KGB-Agenten zum Staatschef, der ebenfalls kein Mittel scheut, Menschen, die ihm im Weg stehen, zum Schweigen zu bringen. Der britische Autor und "Graphic Journalist" Darryl Cunningham hat "Putin's Russia" (Englisch bei Myriad Editions) 2021 veröffentlicht. Auf 160 bilderreichen Seiten lässt sich die blutige Linie nachlesen, die sich - mit Fällen wie dem der Journalistin Anna Politkowskaja oder des Kreml-Kritikers Alexej Nawalny - bis zum brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine zieht. Auf mehreren Seiten listet Cunningham die Quellen auf, aus denen er seine Informationen zieht. Die Welt müsse aufhören, so zu tun, als wäre Putins Regime ein normaler Staat, schreibt er am Ende des Comics. "Demokratie oder Diktatur? Wir haben die Wahl." Martina Knoben
Hans Uhlmanns Gefängnis-Tagebücher
Hier würden Kommunisten verhaftet, schrie die Gestapo in die Menge, damit gleich mal klar war, was jetzt los ist in Berlin. So kam auch der Bildhauer Hans Uhlmann, Mitglied der KPD, 1933 von der Straße weg ins Gefängnis. Der Name steht heute für nach Vögeln im Aufbruch aussehende Stahlskulpturen, etwa vor der Deutschen Oper oder auf dem Dach der Philharmonie. Während bei vielen Kunst-am-Bau-Bildhauern der 50er unter halbabstrakten Formen im Zweifel eine Vergangenheit als heldenknetender NS-Glorifizierer verborgen lag, hatte Uhlmann eine als Nazi-Opfer. Konsequent, dass es jetzt im Kunsthaus Dahlem im ehemaligen Staatsatelier des obersten Heldenkneters Arno Breker kaum je gesehene Zeichnungen dieses Mannes gibt - und bei Hatje Cantz die "Tagebücher aus der Gefängniszeit". Bedrückende Lektüre, befreiend starke Arbeiten. Peter Richter
"Bros" von Romeo Castellucci
Klingt so der Krieg? Ein infernalischer Lärm dringt aus dem Theater, weshalb Ohrstöpsel verteilt werden. Altersempfehlung ab 16 Jahren. Drinnen zwei Hightech-Flak-Dinger, die so gnadenlos ballern, dass es wehtut. Aber das ist nur das Vorspiel. Nachdem ein wallebärtiger Moses in unverständlicher Sprache bestimmt nichts Gutes verkündet, marschiert ein Polizeiheer auf. An die 30 Männer in schwarzen Uniformen, wie sie die Cops in amerikanischen Filmen tragen. Schon ihre Anzahl und Gleichförmigkeit ist furchteinflößend. Sie bilden ein Corps, eine Sekte, eine Bruderschaft. Auf einer finsteren Bühne, die Folterkeller und Sakralraum zugleich ist, vollziehen sie obskure Rituale, üben mit Schlagstöcken und Pistolen aber auch brutalste Gewalt aus. Der Soundtrack dazu (Scott Gibbons) ist hammerhart, markerschütternd. Eine Symphonie des Schreckens in fahlem, kaltem Lagerlicht.
Der Polizeitrupp steht im Dienst des italienischen Theatermachers Romeo Castellucci, der seinem Ruf als Regieschocker und Verstörer mal wieder Ehre macht, auch wenn er erklärtermaßen gar kein Provokateur sein will. Sondern nur jemand, der sein Publikum - durchaus mit Rückbezug auf die griechische Tragödie - mit Tod, Schmerz, den Schwächen der Menschlichkeit konfrontiert. Das ist dann oft schwer auszuhalten. "Bros" (wie brothers, Brüder) heißt seine neue Arbeit, die jetzt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen Deutschlandpremiere hatte. Eine bildstarke choreografische Studie über Macht, Gehorsam und (Polizei-)Gewalt, auch über das Rituelle von Gewalt - und die Macht der Uniform.
Dass die Polizisten Statisten sind und an jedem Aufführungsort kurz vorher gecastet werden, ohne groß zu proben, ist Teil des Konzepts. Sie müssen einen "Verhaltensindex" unterschreiben, mit Sätzen wie: "Ich werde die Befehle nach bestem Wissen und Gewissen ausführen." Oder: "Ich werde in keiner Weise reagieren, selbst wenn Zuschauer oder Zuschauerinnen den Platz stürmen." Alle Handlungsanweisungen kriegen sie durch einen Knopf im Ohr eingeflüstert. Womit sie auch Theatersoldaten sind. Das Erstaunlichste an dem knüppeldick (über)ästhetisierten Abend ist, wie gut und formstreng das funktioniert. Drei der Darsteller sind keine Statisten. So der Nackte auf dem Boden, der quälend lange mit dem Schlagstock malträtiert wird, was täuschend echt aussieht. Oder der, an dem die Uniformierten ein Waterboarding vollziehen. Schlimme Szenen, die im Theater viel tiefer berühren als im Film. Sollte man einschreiten? Gehen? Will man das sehen? Die Diskussion, die im eigenen Kopf abläuft, ist die eigentliche Schlagkraft dieses In-Yer-Face-Theaters. "Bros" hat bei allen Bedenken eine Bullenwucht. Christine Dössel