Healing Architecture:Warum diese Berliner Zahnarztpraxis aussieht wie ein Raumschiff

Healing Architecture: Eine Patientin beschrieb es als "Eidotterparadies", andere denken eher an ein Raumschiff bei der Berliner Zahnarztpraxis KU64.

Eine Patientin beschrieb es als "Eidotterparadies", andere denken eher an ein Raumschiff bei der Berliner Zahnarztpraxis KU64.

(Foto: Hiepler, Brunier)

Und in München tragen die Arzthelferinnen Dirndl. Geht's noch? Ja, gut sogar. Denn so werden Patienten schneller gesund.

Von Juliane Liebert

Das Schlimmste ist das Surren. Jeder kennt es. Man liegt mit aufgerissenem Mund in einem Zahnarztbehandlungsstuhl. Ein Zahnarzthelfer zwängt von links einen Absauger ins Zahnfleisch, die Zahnärztin hat gerade den Bohrer angeworfen, in wenigen Sekunden wird er den Zahn berühren. Blut läuft einem warm in den Mund, während man versucht, nicht zu sabbern. Der Bohrer kreischt und frisst sich langsam tiefer . . . tiefer . . . und dann: ist es vorbei.

Zumindest ist das Surren bald Geschichte. So wie Zahnarztpraxen, die nach surrenden Bohrern und sabbernden Mündern aussehen, bald Geschichte sind.

Im "KU64" haben sie den besagten Bohrer durch ein effizienteres, lautloses Model ersetzt. Es ist eine Zahnarztpraxis in Berlin, die vom Architekturbüro Graft unter der Vorgabe entworfen wurde, das Ergebnis "solle auf keinen Fall wie eine Zahnarztpraxis aussehen".

Praxen, die partout nicht aussehen wollen wie ihre Artgenossen, liegen im Trend. In München gibt es "Relax & Smile", bei denen die Patienten von Mitarbeiterinnen im Dirndl empfangen und betreut werden. Anderenorts tupfen einem während der Behandlung Models Kokosnussöl auf die Lippen. Weltweit entstehen Medical Spas wie die Detox-Klinik Viva Mayr in Österreich oder das Lefay Resort in Italien.

Die Berliner KU-64-Praxis ist ein orange-gelber Irrwitz von einem Raum. Die Inspiration waren Dünen, erklärt Stephan Ziegler, der Chef der, wie soll man sagen - Praxis? Lounge? Designmesse? Die meisten - Gäste? Kunden? Patienten? - sagen allerdings: Es sieht hier aus wie in einem Raumschiff.

Doch Zieglers Konzept geht darüber hinaus. Früher, so der Zahnarzt, spielte die Psyche des Patienten keine Rolle. "Wer einem Patienten nicht wehtun kann, kann kein guter Zahnarzt werden." Das sagte noch sein Lehrer. Ziegler hatte dann eine Praxis in einem Jugendstilaltbau, im Wartezimmerbereich ein paar Fische, das war "für die Kinder schön, nicht so für die Fische, aber die waren robust und machten das lange mit".

Der Zahnarzt war vor zwanzig Jahren einer der ersten, der Prophylaxe angeboten hat. Am Anfang sagten ihm die anderen Ärzte, er "säge an seinem eigenen Ast" und verderbe sich dadurch die künftigen Kunden, aber er verstand früh, dass das Wohlbefinden des Patienten entscheidend für die Heilung ist. Das gilt auch für die Atmosphäre außerhalb des Mundes.

Wenn ein Patient entspannter ist, klappt alles besser

Inzwischen ist "Healing Architecture" längst ein feststehender Begriff. In Berlin gibt es einen eigenen Fachgebiet an der TU, der sich nur damit beschäftigt. Und etliche Studien haben belegt: Die Gestaltung von Räumen hat direkten Einfluss auf Heilung und Gesundheit.

Überall in Deutschland werden derzeit Kliniken aus- und umgebaut, um dieser Erkenntnis zu adäquaten Räumen zu verhelfen. Architektur, Form, Material und Licht wirken direkt auf den Körper ein. Das gilt überall, aber eben gerade auch dort, wo es um die Heilkunde geht. Wenn ein Patient entspannter ist, klappt alles besser.

Im Jahr 2013 haben die Graft-Architekten an der Charité die Intensivbehandlungsräume neu gestaltet: Sie haben die Geräte hinter Holztafeln verschwinden lassen und alles getan, bis die Räume wie Wohnzimmer aussahen. Dann wurden die Krankheitsverläufe ausgewertet. Der Unterschied zum normalen Krankenhaus-Umfeld hat sich als messbar erwiesen. Das gilt sowohl für die Verweildauer im Krankenhaus als auch für den Bedarf an Schmerzmitteln.

Das alles ist natürlich eine Geldfrage

Im KU 64 wurden ganze Wände bepflanzt, um den typischen Zahnarztgeruch zu vertreiben. Der Übergang zur Wellness ist fließend: Im Wartezimmer gibt es Liegen mit iPads, für das Wohl der Mitarbeiter sorgt ein Fünf-Sterne-Koch, über den Behandlungsstühlen sind Flachbildschirme montiert, auf denen während der Behandlung der jeweilige Lieblingsfilm gezeigt wird.

Am liebsten, so Ziegler, würde er es so arrangieren, dass direkt beim Betreten des Raumes die Lieblingsmusik des Patienten gespielt wird.

19 Prozent der Deutschen haben Angst vor jedem Zahnarztbesuch. Stephan Ziegler hatte eine Patientin, die fünf Mal kam, unten klingelte - und wenn der Summer anging, rannte sie jedes Mal weg. Beim sechsten Mal kam sie mit ihrem Freund, die Behandlung erfolgte in Vollnarkose, danach war die Phobie weg.

Der Haken? Das alles ist natürlich eine Geldfrage. Die Zielgruppe ist eine Mischung aus privaten Patienten und Kassenpatienten. Prinzipiell steht die Praxis allen offen. Viele Behandlungen kosten allerdings zusätzliches Geld. Für eine professionelle Zahnreinigung werden zwischen 80 und 150 Euro berechnet.

Erzählt man davon - von den Dünen, dem Sternekoch oder den iPads - erntet man unter Umständen skeptische Blicke. "Will ich denn meinen Lieblingsfilm für immer mit meiner Wurzelbehandlung assoziieren?" sagen diese Blicke. "Das Abbild Gottes im weißen Kittel auf Erden ist der Arzt, das Konterfei des Teufels ist der Zahnarzt, das war so und wird immer so bleiben."

Ziegler hat Patienten verloren, als er in die neue Praxis zog, eine ältere Dame schrieb ihm in einem Brief, sein "Eidotterparadies" könne er sich schenken. In dieser fulminanten Kritik zeigt sich etwas Grundsätzliches: Es ist zutiefst menschlich, ein vertrautes Übel einem unbekanntem Glück vorzuziehen. Oder ist es doch so, dass der Mensch nicht eigentlich das Glück, sondern das Leiden sucht?

Wer keine Angst vorm Zahnarzt hat, schiebt den Besuch nicht hinaus

Es ließe sich Geld sparen mit dem Vertrauen auf heilende Architektur. Dass jemand, der sich wohl fühlt, schneller gesund wird als jemand, der sich schlecht fühlt, ist nicht besonders überraschend. Wer keine Angst vorm Zahnarzt hat, schiebt den Besuch nicht hinaus. Das würde etliche Behandlungen ersparen.

Wie also wird der Zahnarztbesuch der Zukunft aussehen? Wie ein Sonntagsausflug womöglich? Also ungefähr so: Nachdem man den Ku-Damm entlanggeschlendert ist, fährt man mit dem Fahrstuhl nach oben. Betörender Duft empfängt einen. Auf einer roten Liege mit eigenem iPad darf man sich zurücklehnen, nachdem auch die kleine Tochter an der Kletterwand mit Extrabetreuung abgegeben wurde. Ständig will die Kleine zum Zahnarzt, es ist nicht auszuhalten.

Bis es aber so weit ist, sagt der Zahnarzthelfer im grell erleuchteten, nach Desinfektionsmittel riechenden Raum vorerst noch: "Gleich geht es weiter!" Und was, bitte schön, fühlt sich besser an als ein überstandener Schmerz?

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