Hausbesuch:Lebenszeit auf Reserve

Jenny Erpenbeck schreibt und spricht so mitreißend darüber, wie sich Erinnerungen in Dingen sedimentieren und warum sie schlecht etwas wegwerfen kann. Aber wie sieht das in ihrer Wohnung aus?

Von Alex Rühle

Im Frühjahr dieses Jahres gab es eine weltweite Hysterie um eine kleine Japanerin, die Amerikanern dabei hilft, ihre Wohnungen aufzuräumen. In einer eigenen Netflixserie führt Marie Kondo Menschen in die Kunst des Wegwerfens ein, eine Tätigkeit, die anscheinend beherzt und achtsam zugleich vonstatten zu gehen hat. Am Ende jeder Folge stehen die Leute dann in leeren Räumen und fallen Kondo um den Hals. Die Serie trifft wohl einen entzündeten Wohlstandsnerv, viele Zuschauer sprechen davon wie von einem kathartischen Erlebnis, endlich gibt ihnen jemand die Kraft, den blöden Lebensplunder loszuwerden, an dem sie längst zu ersticken drohen.

Lustige Vorstellung: Die Aufräumbrigade Marie Kondo klingelt bei Jenny Erpenbeck, um hier mal ordentlich auszumisten. Die Folge wäre wahrscheinlich keine 30 Sekunden lang, Erpenbeck würde das Kondokommando so höflich wie hochkant rauswerfen. In ihrem Buch "Dinge, die verschwinden", wunderte sie sich 2006 über all die nach Berlin gezogenen Bayern und Rheinländer, die ihr erzählen, sie hätten es "gern japanisch", was ein Synonym ist für: leer. Ihre eigene Wohnung, schrieb sie damals, sei voller Krempel.

Eine Küche in Berlin. Von draußen helles, laubgrünes Sommerlicht, vor den Fenstern ein parkähnlicher Platz mit hohen Bäumen. Auf diesem Platz findet jede Woche ein Flohmarkt statt, Sonntag für Sonntag wird dort haufenweise Krempel angeboten. Drinnen steht Jenny Erpenbeck und rührt Kaffeebohnen in einer Handröstmühle von 1942, aus Ufa, einer Stadt am Ural, aber dazu später mehr. Jetzt sagt sie nämlich erst mal inmitten des Kaffeebohnendufts: "Ich hab' geradezu einen Horror davor wegzuschmeißen." - "Warum?" - "Weil man damit immer auch Lebensgeschichte wegwirft."

Eine Freundin hat ihr kürzlich erzählt, dass sie all ihre Tagebücher vernichtet habe. "Die war richtig stolz darauf", sagt Erpenbeck und klingt dabei, als könne sie es bis heute nicht fassen. "Nee, kann ich auch nicht. Wem gehört denn so ein Tagebuch? Da sind doch so viele Menschen drin." - Na ja, schon, aber es sind doch die Erinnerungen der Freundin, damit kann die doch machen, was sie will. "Finden Sie? Ich weiß nicht. Ich finde, die hat die Geschichten all ihrer Mitmenschen mitverbrannt. Selbst wenn sie die verzerrt dargestellt hat; selbst wenn Schlimmes drinsteht - ist doch immer noch besser als das Nichts."

Da steht ein Satz von Karl Valentin: "Die Zukunft war früher auch besser."

Die Idee zu diesem Hausbesuch entstand in Frankfurt, auf einer Tagung zum Erinnern und Vergessen. Zwei Tage Experten-Talk. Neurowissenschaftler, Historiker, Traumaexperten sprachen über Mnemosyne und Lethe, neuronale Synapsen, das Recht auf Vergessen in Zeiten der totalen digitalen Speicherung und unser aller Angst vor Alzheimer. Das war schon alles hochinteressant und kundig, aber dann saß da die Berliner Autorin Jenny Erpenbeck, deren ganzes Werk laut Moderationsankündigung auf so vielfältige Weise ums Erinnern und die Geschichte kreist, und erzählte von ihrem alten, kaputten Dampfdrucktopf, den sie einfach nicht wegwerfen konnte, weil daran so viele Erinnerungen hingen, weshalb sie ihn ein Jahr lang im Kofferraum durch die Gegend fuhr, bis er als Blumentopf in ihrem Garten landete - und plötzlich fing das Tagungsthema von innen her an zu glänzen. Es war, als hätten einem zuvor Kunsthistoriker den Wert alter Kirchenfenster erklärt, indem sie von draußen auf die staubgrau wirkenden Scheiben zeigen. Dann nahm einen Erpenbeck mit ins Innere der kollektiven Erinnerungskathedrale, erzählte davon, wie sich Geschichten an Gegenständen ablagern, und alle Fensterfarben begannen zu leuchten.

Jenny Erpenbeck und ihre Dinge

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin.

(Foto: Stefanie Preuin)

An Erpenbecks Kühlschrank hängt ein Foto, das aus dem Gerippe des Palastes der Republik heraus aufgenommen wurde, kurz vor dem endgültigen Abriss. Es gibt keine Fensterscheiben mehr, nur nackte Metallstreben, dazwischen Luft und dahinter der Dom und das Alte Museum. "Dieser Blick wurde damals mit abgerissen", sagt Erpenbeck. Auf dem Magneten, der das Foto hält, steht ein Satz von Karl Valentin: "Die Zukunft war früher auch besser."

Eines sollte man möglichst früh klären: Man stellt sich Aufbewahrer und Dingehorter ja gern als verkniffene Melancholiker vor. Jenny Erpenbeck aber hat so gar nichts Tristes oder Verhocktes. Es ist bestimmt auch nicht so, dass sie sich mit all den Dingen gegen die Gegenwart abschirmt, sie scheint eine große Gabe für Freundschaften und Beziehungen zu haben, und während wir mehrere Stunden lang durch Mappen, Kisten, Krusch und die damit zusammenhängenden Familiengeschichten mäandern, läuft im Hintergrund der Alltag weiter, der Mann ruft an, der Sohn packt sein Zeug fürs Feriencamp. Der Vormittag bei ihr ist so witzig wie anrührend, ihr eigenes Leben fasst sie inmitten der Dinge, beim Aufklappen einer Kinderwunderkammer (Hasenpfote, Jojo, die Kappe einer Silvesterrakete...), en passant so zusammen: "Anfangs war ich Requisiteuse. Eigentlich wollt ich Bühnenbildnerin werden. Da wurden in der letzten Runde vier der fünf Bewerber genommen; ich war die fünfte. Dann wollt ich Grafik und Buchkunst machen, da wurd ich auch nicht genommen. Dann hab ich Opernregie gemacht, jetzt schreib ich, na auch gut."

Über dem Bett im Schlafzimmer hängen Fotos ihrer Vorfahren. "Die Familie ist der Ausschnitt aus der Menschheit, den man zum konkreten Kennenlernen zugeteilt bekommen hat", sagt sie. "Ich hatte da ziemliches Glück." Kann man so sagen. Jenny Erpenbeck ist die Tochter des Physikers, Philosophen, Schriftstellers John Erpenbeck und der Arabisch-Übersetzerin Doris Erpenbeck. Die Eltern ihres Vaters waren das Autorenpaar Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner. Dann gab es noch die andere Oma, die in sibirische Kriegsgefangenschaft geriet, in Tscheljabinsk, dem Städtchen, über dem 2013 ein riesiger Meteor verglühte, weshalb die Stadt kurz im grellen Aufmerksamkeitskegel der Weltnachrichten aufschien und sofort wieder verschwand.

"Archivar wär ein Traumberuf. Im Sinne von Kempowski."

Heute stehen in einem von Jenny Erpenbecks Regalen zwei italienische Alubüchsen mit Olivenöl, Dante Olio d'Oliva, zwei goldblaue kleine Kanister. Die haben ihre Großeltern gekauft, 1936, in Prag, auf der Weltausstellung. Als sie dann fliehen mussten, haben sie die eiserne Fettreserve mitgenommen. Sie sind erst nach Moskau, dann nach Ufa. "Und es ging ihnen zumindest so gut, dass sie die nie gebraucht haben." So reisten die beiden Dosen am Ende wieder mit zurück nach Berlin, standen dort jahrelang im Regal der Großeltern und schauten ihnen Tag und Tag beim Älterwerden zu. Heute stehen sie hier bei Jenny Erpenbeck und strahlen ihr warmes Erinnerungsgoldlicht aus. Beide wurden nie geöffnet, die Lebensnotreserve ist im Dunkel der Kanister immer noch enthalten.

Erpenbeck wohnt mit diesen Dingen, ja sie bevölkern im wahrsten Sinne des Wortes ihre Räume, erinnern sie doch jeweils an einen Menschen, die Briefwaage am Fenster an die verstorbene Freundin, die gepunktete Kanne an die Urgroßmutter. Die ist mindestens so interessant wie die Großmutter, den moldauischen, eventuell jüdischen Urgroßvater nicht zu vergessen, kurzum: Erpenbeck lebte früh mit vielen Toten. "Ich war auf zehn Beerdigungen, bevor ich auf der ersten Hochzeit war. Müller spricht ja über die Anwesenheit der Toten", sagt sie. - Welcher Müller denn jetzt? - "Na, Heiner!" Sie sagt das im Ton von: Also hörnsemal, es gibt nur einen Müller!

Wenn man mit Jenny Erpenbeck durch all die Bestände streift, fällt einem immer wieder "Heimsuchung" ein, ihr autobiografischer Roman über ein Haus an einem der märkischen Seen, das so vielen Generationen Zuhause ist, bis es am Ende wieder abgerissen wird. Als der Erbauer dieses Hauses, ein Architekt, in den Westen ausreist, vergräbt er alle wertvollen Dinge auf dem Grundstück, in der Hoffnung, sie eines Tages bergen zu können. Das Silber, die Teller, die Krüge, alles taucht im weiteren Verlauf des Textes wieder auf, wie Verdrängtes, vorübergehend Vergessenes, das so unbedingt dazugehört, dass es über die Jahre wieder seinen Platz einfordert.

Jenny Erpenbeck und ihre Dinge

Die Dinge, oh die alltäglichen Dinge: Im Fundus von Jenny Erpenbeck sind unter anderen Dingen eine der beiden Ölflaschen, die Jenny Erpenbecks Großeltern bis nach Russland und zurück begleiteten und die Röstmühle, die sie damals im Ural kauften.

(Foto: Stefanie Preuin)

Nun gibt es ja nie den einen Grund für einen Charakterzug oder eine Leidenschaft. Um Erpenbecks Sammeltrieb zu verstehen, kann man von den Familienfotos auch rüberwandern ins Gästezimmer, wo an einer Wand an die hundert Papiertüten hängen, alle aus den letzten Monaten der DDR. "Zierfischfutter", Weißzucker, "20 Jahre Fernsehturm". Auf einer der Tüten steht handschriftlich "28.6.1990 letzter Einkauf mit DDR-Geld". Warum sammelt man so was? "Als klar war, dass die DDR untergeht, hab ich angefangen, alles zu sammeln, Tütensuppen, Zuckertütchen, Papiertüten. Schön, oder?" Na ja, Papiertüten, ziemlich schlicht. "Eben drum. Geld war nicht wichtig in dieser Gesellschaft. Kaufen und Verkaufen war Nebensache, das sieht man an den Verpackungen." Die Aufschriften verblassen, die Sonne streift jeden Tag über den Fernsehturm und das Zierfischfutter, irgendwann wird nur noch das Papier übrig sein.

"Wirkliches Erinnern ist nie das Greifen in eine Schublade, sondern dieser Prozess des Nachdenkens. Oft sehr schmerzhaft."

Natürlich hat ihr Sammeln auch mit der Erfahrung dieses tiefen Bruchs zu tun, damit, dass etwas so Großes wie ein Land, eine Gesellschaft plötzlich verschwinden können. Und so wurde diese Wohnung zum doppelten Archiv, dem einer Familie und dem einer Epoche. "Oh", sagt Erpenbeck, "Archivar wär ein Traumberuf. Im Sinne von Kempowski."

Walter Kempowski, von 1948 bis 1956 in der DDR wegen Spionage inhaftiert, ist so etwas wie Erpenbecks Hausheiliger. Er hat selbst mal beschrieben, wie er zum Sammler und Dokumentar deutscher Vergangenheit wurde: "An einem Winterabend 1950 wurde ich in Bautzen über den Gefängnishof geführt, und da hörte ich ein eigenartiges Summen. Der Polizist sagte: ,Das sind Ihre Kameraden in den Zellen, die erzählen sich was.' Ich begriff da, dass aus dem Gefängnis schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne dass ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte, und es wurde mir bewusst, dass ich der einzige Zuhörer war: ein kleiner Häftling, für knappe zwei Minuten. Jahre später, als ich in Göttingen studierte, sah ich einen Haufen Fotos und Briefe auf der Straße liegen; die Menschen traten darauf: Es war die letzte Hinterlassenschaft eines gefallenen Soldaten, Fotos aus Russland, Briefe an seine Braut. Das gab mir einen Stich, und ich sammelte die Sachen ein. (...) Wir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf: Es ist unsere Geschichte, die da verhandelt wird."

Nun kann man "unsere Geschichte" ja so und so verhandeln. Was deren dreiste Instrumentalisierung durch die AfD angeht oder, um es neutral zu sagen, das Lernen aus der Geschichte, da ist Erpenbeck pessimistisch. "Ich fürchte, jede Generation muss ihre Erfahrungen von vorne machen. Der Satz ,Nur wenn wir die Vergangenheit verstehen, können wir die Gegenwart meistern', der klingt zum einen furchtbar abgestanden. Zum anderen stimmt er leider auch nicht. Man lernt fast alles über Emotionen. Das fahle Schulbuchwissen über die Nazizeit reicht nicht, um zu verstehen, was damals passiert ist. Zeitzeugenveranstaltungen sind wichtig, gelebte Geschichte. Und manche erreicht man noch über die Kunst. Aber die meisten sind ja schon fix und fertig mit ihrem Urteil."

Wie unterscheidet sich denn reifes Eingedenksein von klebrig-verklärender Nostalgie? Erpenbeck überlegt lange. Und sagt dann: "Erinnerung hat viel mit unserer Sterblichkeit zu tun. Erinnerung arbeitet gegen die Vergänglichkeit an. In diesem Sinne arbeiten wir mit der Erinnerung gegen unsere Angst an, in der Welt verloren zu sein. Wir versuchen, durch die Erinnerung Kontinuität herzustellen, gerade weil wir wissen, dass es diese Kontinuität nicht gibt. Und genau dabei stoßen wir natürlich auf Brüche, Veränderungen - und beginnen, wenn wir es ernst meinen, nachzudenken. Wirkliches Erinnern ist nie das Greifen in eine Schublade, sondern dieser Prozess des Nachdenkens. Oft sehr schmerzhaft."

Dann ist der Kaffee fertig. Der Kaffee aus der Röstmühle von 1942. Es war nämlich so: Im Krieg hatten die USA den verbündeten Russen Waffen geliefert und als Verpackungsmaterial oft ungeröstete Kaffeebohnen verwendet. "Die Russen mochten den Kaffee nicht, meine Großeltern fanden's wunderbar - mitten im Krieg hatten sie Kaffee. Und haben sich deshalb 1942 in Ufa diesen Apparat gekauft." Der nun 77 Jahre später in einer Berliner Küche die Bohnen erhitzt.

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