Reaktion auf Brexit:Hass auf Experten: Wir und die

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In Oxford haben David Cameron, Boris Johnson und viele andere Personen des öffentlichen Lebens in Großbritannien studiert. Doch der Eliten-Frust im Land wird immer stärker. (Foto: Guillaume de Laubier)

Der Brexit trifft auch die Universitäten - und vertieft so die Kluft zwischen Volk und Eliten. Die Wut der Protestwähler geht aber noch weit darüber hinaus.

Von Johan Schloemann

"Einen One-Way-Flug nach Zürich bitte!" Das war die erste Reaktion eines führenden Wissenschaftlers auf die Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union. Und auch wenn Simon Wessely, Professor am King's College London und Präsident des Royal College of Psychiatrists, das nur als bitteren Scherz gemeint hat, so drückte er damit doch aus, was viele an den Universitäten empfinden.

Fast die gesamte akademische Welt, kein unwichtiger Teil der britischen Gesellschaft, war und ist gegen den Brexit. Nun ist sie zutiefst verstört, denn die Isolationisten konnten sich mit einer Parole durchsetzen, die einer ihrer Wortführer, Michael Gove, immerhin früherer Bildungsminister, formulierte: "Die Menschen in diesem Land haben die Nase voll von Experten!"

Die "Flamme am Leben halten"

Die gebildeten, gelehrten, forschenden Experten auf der Insel ziehen hingegen physische und geistige Mobilität vor. Das war schon so, als die Idee der Universität im Hochmittelalter geboren wurde, in Bologna, an der Sorbonne und nicht zuletzt in Oxford und Cambridge, eine sehr europäische Veranstaltung, verbunden durch die Expertensprache Latein. Und es ist heute auch so, in einer globalisierten anglophonen Wissenschaft, für die nach wie vor britische Universitäten in vielen Fächern Maßstäbe setzen. Der Rektor der Universität Sheffield, Keith Burnett, warnt denn auch: "Wir sind Teil einer Tradition von Lehre und Forschung, die Jahrhunderte alt ist und die nicht von nationalen Grenzen beschränkt werden kann. Mehr denn je ist es jetzt wichtig, dass wir diese Flamme am Leben halten."

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Wie soll man reagieren, wenn die eigenen Mitbürger entscheiden, einfach mal aus der EU auszutreten? Mancher Brite greift zu einem bewährten Mittel: Witze machen.

Foren wie Times Higher Education quellen bereits über vor besorgten Stellungnahmen von Forschern. Ein Biologieprofessor am Imperial College sagt, Kollegen aus der EU würden sich nun "zunehmend unwillkommen" fühlen. Es gebe ja schließlich noch viele andere gute Orte, an denen Wissenschaftler arbeiten könnten, Deutschland etwa oder Südkorea. Viele fürchten den Brain Drain, den Abfluss von Intelligenz, und ein Erlahmen von Innovation bereits durch die intolerante, weniger offene Atmosphäre, die die erschreckend kleingeistige Brexit-Debatte und ihr Ergebnis erzeugt haben: Allein schon die Wahrnehmung, dass man jetzt provinzieller werde - selbst wenn das noch gar stimmt -, könnte Gift sein.

Angst vor der "Verarmung des Campus"

Julia Goodfellow, Rektorin der Universität von Kent und Präsidentin des Hochschulverbandes "Universities UK", sagte, in der Übergangsperiode der Austrittsverhandlungen müsse alles dafür getan werden, "dass unsere Universitäten weiterhin global ausgerichtet bleiben, international vernetzt und ein attraktiver Standort für talentierte Leute aus ganz Europa". Vor dem Referendum hatten mehr als 100 britische Hochschulrektoren (sie heißen dort "Vize-Kanzler", weil der Kanzler ein reiner Ehrenposten ist) eine "Verarmung des Campus" beschworen. Und Mike Savage, Direktor des Soziologie-Departments an der London School of Economics (LSE), spießte gleich am Freitag auf Twitter etwas auf, das vielleicht Zufall war, ihm aber bezeichnend erschien: "Gerade ein Jobangebot von einer kontinentaleuropäischen Universität bekommen. Das ging ja schnell!"

Selbst wenn sich manche dieser Sorgen als übertrieben erweisen sollten, für viele sind sie ganz handfest. Gerade die britischen Geisteswissenschaften, noch zwar berühmt durch Kapazitäten wie den Ideenhistoriker Quentin Skinner, die Althistorikerin Mary Beard, den Hitler-Biografen Ian Kershaw und viele andere, sind in den vergangenen Jahren immer mehr bedrängt worden, teils durch harte Mittelkürzungen, teils durch eine Evaluierungs- und Effizienz-Maschinerie, der gegenüber selbst die wahnsinnige deutsche Drittmittel- und Exzellenz-Bürokratie als verkraftbar erscheinen könnte.

Ist die gemeinsame europäische Universitätslandschaft bedroht?

Schon daher ist die Hoffnung auf Europa und die internationale Kooperation bei den britischen Akademikern besonders ausgeprägt. Und jetzt haben sie lauter Fragen: Was wird denn mit den europäischen Studenten-Austauschprogrammen? Und was geschieht mit bewilligten oder erhofften Projektgeldern vom Europäischen Forschungsrat (ERC)? Der Präsident der Universität von Maastricht, der deutsche Mediziner Martin Paul, hat zwar in einer Stellungnahme am Wochenende vermutet, für die Fortsetzung der ERC-Forschungsförderung werde man wohl eine Lösung finden, so wie auch Schweizer Universitäten daran teilhätten. Viel eher fürchte er, sagte Paul, "dass die gemeinsame europäische Universitätslandschaft bedroht ist. Der wahre Wettbewerb kommt nämlich aus China und Indien, wo gerade starke Forschungsstrukturen ausgebaut werden."

Es geht also beim Brexit auch um Wissenschaftspolitik, Chancen für die nächste Generation und um Institute, die europäischen Geist atmen sollten. In Großbritannien selber allerdings reicht das Problem noch viel tiefer. Die Entfremdung zwischen "dem" Volk und den Eliten, die auch anderswo gerade den Nationalismus neu belebt - "Nase voll von Experten! -, diese Entfremdung trifft die britische Bildung und Klassengesellschaft jetzt ins Mark. Denn so international die Universitäten inzwischen orientiert sind, als Ort der Elitenrekrutierung, Debattenkultur und Netzwerkbildung sind sie zugleich immer noch sehr britisch. Praktisch alle Politiker, die jetzt abgestraft wurden, haben dort ihren akademischen und rhetorischen Schliff bekommen, der oft auch zum wendigen öffentlichen Debattieren befähigt.

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Die anti-intellektuellen und anti-elitären Wallungen der EU-Gegner richten sich daher auch gegen einen verwobenen Komplex von Eliteschulen, Universitäten, Politik und Medien im eigenen Land. Und auch wenn man sich zuletzt sehr um eine Demokratisierung von Stil, Sprache und Habitus bemüht hat, so ist der Komplex noch sehr lebendig: Eloquente Professoren zum Beispiel sind sehr präsent in der Qualitätspresse und in den öffentlich-rechtlichen Medien; umgekehrt gibt es immer wieder politische Chefkorrespondenten der BBC, die Bücher schreiben und anspruchsvolle Kultursendungen im Radio moderieren - man stelle sich zum Vergleich vor, wie es wäre, wenn Bettina Schausten das "Literarische Quartett" moderierte.

Sex mit einem toten Schwein? Das wäre jetzt Camerons geringstes Problem

Wenn die quasi noch ständische Verteilung von Reichtum, Chancen und Bildung immer weniger als gegeben akzeptiert wird, wird es, wie die Brexit-Debatte zeigt, für die britischen Eliten vertrackt: Sie sind mittels ihrer akademischen Ausbildung recht gut darin, in den Medien genau die Probleme zu erklären, als deren Vertreter oder Verursacher sie dann von vielen gesehen werden. Die alte Diskussion, ob der britische Liberalismus nur Wohlstand und Wettbewerb für wenige fördere oder - wie es John Stuart Mill wollte - auch Werte und Wohlfahrt für alle, flammt in einer neuen Konstellation wieder auf. So vermutet denn auch die LSE-Soziologin Lisa Mckenzie, eigentlich gelte das Brexit-Votum in erster Linie den sozialen Folgen der Londoner Austeritätspolitik.

Der Verdacht der Protestwähler erstreckt sich insgesamt auf die liberalen, europafreundlichen Bessergestellten. Nur scheinbar widersprüchlich ist es da, dass auch viele, die den Brexit führend betrieben oder ermöglicht haben, aus der akademischen Elite stammen. Man wird dort nämlich auch sehr gut zum Populisten ausgebildet. David Cameron verkörpert trotz oder eben wegen seiner beeindruckenden intellektuellen Fähigkeiten einen hohlen, perfiden Karrierismus in seiner schlimmsten Form - wie edel sah der frühere Premierminister John Major im Wahlkampf neben ihm aus! Und Eton und Oxford haben auch Boris Johnson hervorgebracht, der einen besonders klassischen Karriereweg gegangen ist, indem er mit Bravour alte Sprachen am Balliol College lernte. Für ihn gilt wie für seinen Vorgänger, den euroskeptischen Tory-Politiker und Thukydides-Herausgeber Enoch Powell: Altgriechischkenntnisse können klüger, gewiefter und eloquenter machen, schützen aber nicht vor politischer Niedertracht. Leute wie Johnson, schreibt Nick Cohen im Observer, "haben Erfolge errungen, indem sie das öffentliche Leben wie ein Spiel behandelt haben". Greller denn je, wie eine Satire, tritt so das doppelte Potenzial der britischen Elite hervor: das vernünftige, pragmatische und das exzentrische, halsbrecherische.

Zusätzlich verstärkt wurde die Entfremdung von Volk und Elite durch die Entfesselung des Finanzmarkts seit Margaret Thatcher. Sie hat einen neuen Typus von Glücksspielern, von vulgärerem Reichtum geschaffen, selbst wenn er sich immer noch in Maßanzüge aus der Savile Row kleidet. Der Eliten-Frust, der auch die Universitäten trifft und treffen wird, ist nun krasser denn je. Anspielend auf die Mutproben und Männerbünde in Oxford schreibt die linke Publizistin Laurie Penny zum Brexit: "David Cameron dürfte sich heute nach dem Morgen sehnen, an dem er sich mit den Vorwürfen der Presse beschäftigen musste, er habe als Student einmal Sex mit einem toten Schwein gehabt."

© SZ vom 27.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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