Süddeutsche Zeitung

Harvard-Professor bei Youtube:Philosophie zum Anklicken

Michael Sandel ist Harvard-Professor und stellt seine Vorlesungen auf Youtube - mit Erfolg. Bis zu fünf Millionen Mal werden Vorträge des Philosophen aufgerufen. Dabei ähnelt Sandels Programm dem von Google.

Von Felix Stephan

Der Harvard-Philosoph Michael Sandel kann sich nicht vorstellen, dass die Mehrheit in ethischen Fragen Unrecht haben könnte. Wenn man aufrichtig mit möglichst vielen Menschen spreche, würden die Menschen am Ende die richtige Entscheidung treffen. Das ist Michael Sandels Programm. Und das ist auch Googles Programm, minus der Ethik.

Vielleicht ist es genau diese Schnittmenge, die Sandel zum führenden Philosophen auf Googles Videoplattform Youtube gemacht hat. Die erste Folge seiner Vorlesungsreihe zum Begriff der Gerechtigkeit - "Harvard University's Justice, with Michael Sandel" - wurde bis heute fast fünf Millionen Mal aufgerufen. Dass die Philosophie Bücher verkauft und Säle füllt, wenn sie den Menschen etwas zutraut, hat Sandel immer wieder gezeigt, zuletzt bei einer Stippvisite an der Freien Universität Berlin.

Wie Youtube fordert auch Sandel das Publikum zum Mitreden auf. In seinen Vorlesungen stellt er praktische Anwendungsfragen zum guten, rechten Leben und lässt dann die Zuhörer Pro- und Contra-Argumente austauschen: "Sollte eine Universität einen schwächeren Studenten annehmen, wenn die Eltern zehn Millionen Dollar spenden, mit denen hundert talentierten, aber armen Studenten ein Studium ermöglicht werden kann?" Oder: "Sollten alle Länder verpflichtet werden, eine bestimmte Anzahl an Flüchtlingen aufzunehmen, mit der Option, Aufnahmekontingente an andere Länder zu verkaufen?" Dann: Pro, contra, thank you, Applaus.

Harte Themen zugänglich machen

Die Linie zum reinen Entschleunigungsberater überschreitet der renommierte Kommunitarist dabei nie. Sandel macht harte Themen zugänglich, ohne sie zu banalisieren. Seine erfolgreichsten Bücher ("Gerechtigkeit: Wie wir das Richtige tun" erschien zuletzt auf Deutsch im Ullstein Verlag) behandeln, als direkte Reaktionen auf die Finanzkrise, die ethische Dimension des freien Marktes.

Gerade in den USA galt lange, dass gut ist, was sich am Markt durchsetzt. Heute jedoch sehnen sich auch in den USA viele Menschen in jene sozialdemokratischen Jahrzehnte zurück, in denen noch nicht fünf Prozent der Menschen 99 Prozent des Wohlstands auf sich vereinten.

In Berlin rannte Sandel mit seiner Marktkritik jedoch offene Türen ein: Dass Bildung, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit Grundrechte sind, die nicht vom Markt angeboten, sondern von einer verantwortungsvollen Gesellschaft garantiert werden sollten, ist in Deutschland breiter Konsens. Trotzdem vollzieht sich die Entwicklung, den freien Markt nicht mehr als wirtschaftliches Instrument, sondern als gesellschaftliches Grundprinzip zu betrachten, auch hier.

Da aber die Philosophie des freien Marktes beispielsweise nicht erklären kann, was daran falsch sein soll, seine Wählerstimme zu verkaufen, wenn man sie ohnehin nicht in Anspruch nehmen möchte, plädiert Sandel dafür, sensible Bereiche gesellschaftlichen Wohlergehens vom Markt fernzuhalten. Die liberalen Ökonomen, so Michael Sandel, müssten dafür ihr Dogma vom "wertneutralen Markt" aufgeben und die Wirtschaftstheorie wieder als Zweig der politischen Ethiklehre begreifen. So wie es schon einmal gewesen sei - bei Adam Smith und Karl Marx.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1798305
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 19.10.2013/ahem
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.