Hartmut Rosa antwortet:Noch mal langsam von vorne

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Hartmut Rosa, Autor soziologischer Bestseller, ist Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. (Foto: Thomas Mueller/imago images)

Hartmut Rosa hat mit zwei Begriffen erklärt, wie sich die Gegenwart anfühlt. In einem Interview-Bändchen liest sich der Soziologe jetzt wie in doppelter Geschwindigkeit abgespielt. Moment mal!

Von Alex Rühle

Als Hartmut Rosa 2004 seine Habilitationsschrift einreichte, ahnte er bestimmt nicht, dass seine Analyse als zeitdiagnostisches Meisterwerk Furore machen würde: „Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ wurde zum Suhrkamp-Longseller, der auch 20 Jahre nach seinem Erscheinen nichts von seiner Kraft und Gültigkeit verloren hat. Der Jenaer Soziologe beschreibt darin die Moderne als allumfassendes Beschleunigungsprojekt, von der Produktionsmechanisierung über Fortbewegung und Arbeitsabläufe bis hin zur Datenverarbeitung. 

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Als sich diese massive Dynamisierung aller Lebensbereiche am Horizont der Moderne abzeichnete, frohlockten viele, das werde den Menschen vom Zwang der entfremdeten Arbeit befreien. John Maynard Keynes prophezeite, spätestens das 21. Jahrhundert werde das „Zeitalter der Freizeit“ mit „Drei-Stunden-Schichten oder einer 15-Stunden-Woche“. Was diese Optimisten ignorierten und was Rosa eindringlich herausgearbeitet hat: Wir Menschen schauen all den Beschleunigungstendenzen nicht aus einer Art zeitlichem Naturreservat zu. Die Beschleunigung dringt in all unsere Lebensbereiche ein wie ein unsichtbares Gas, zumal sie ja Motor aller Wettbewerbslogik ist und uns so immer stärker vor sich hertreibt: Zeit ist Geld, do it faster, wir werden uns verschlanken, um Synergieeffekte zu optimieren et cetera pp. 

Da die zentralen Errungenschaften der europäischen Aufklärung – Rechtsstaat, Demokratie, autonomes Subjekt – aber alle einen sehr langsamen Puls haben, Zeit für ihre Entwicklung, Aushandlung, Neujustierung brauchen, werden sie in der allumfassenden Beschleunigungsturbine zerrieben, es kommt zu „organisatorischem Kammerflimmern“, sodass am Ende des Buches das Projekt der Moderne an einer Art selbst verschuldetem Herzinfarkt zugrunde geht.

Ein Gegenmittel hat der Soziologe doch gefunden: einen neuen Begriff

Rosa traf mit seiner Diagnose so direkt in den Schmerzkern unserer Zeit, er konnte unser aller Unbehagen und Überforderung so treffend dingfest machen, dass er mit seinen Thesen zum Vortragsreisenden wurde. Stets kam am Ende des Abends die flehentliche Frage, was man denn verdammt noch mal tun könne, um der Beschleunigungsfalle zu entgehen, worauf Rosa antwortete, er sei Soziologe, kein Therapeut. Irgendwann kam ihm diese Antwort aber schal und wohlfeil vor, und er entwickelte eine soziologisch fundierte Theorie der „Resonanz“ als Gegenentwurf zum entfremdeten Leben des gehetzten Menschen.

Unter diesem Schlüsselbegriff versteht er eine „responsive Weltbeziehung“. An die Stelle egozentrischer Selbstoptimierung, Weltverzweckung und damit unweigerlich Lebensverkümmerung tritt ein grundlegend anderes In-der-Welt-Sein: In der offenen Begegnung, sei es mit anderen Menschen (das Treffen mit Freunden, bei dem man sich wirklich auf den anderen einlässt, statt ihn totzumonologisieren), mit Texten oder Kunstwerken (Anverwandlung und Durchdringung statt stumpfe Aneignung qua Büffeln) oder mit der Natur (die Bergtour als Naturerlebnis statt sturem Gipfelstapfen).

„Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung“ war noch erfolgreicher als „Beschleunigung“. Gleichzeitig knüpfen sich viele Fragen daran: Kann man als Einzelner in einer funktional verkrüppelten Zeit Resonanz leben, ohne Weltflucht zu begehen? Und wie kann solch eine Resonanzfähigkeit befördert werden, wenn man von der Grundschule an in erster Linie fit gemacht wird für den späteren Wettbewerb?

Hartmut Rosa: Beschleunigen wir die Resonanz! Gespräche mit Nathanaël Wallenhorst. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, Berlin 2024. 77 Seiten, 14 Euro. (Foto: Suhrkamp)

Mit dieser Frage hebt das Gespräch zwischen dem französischen Erziehungswissenschaftler Nathanaël Wallenhorst und Hartmut Rosa an, das der Suhrkamp-Verlag jetzt als eigenes Hosentaschen-kleines Bändchen herausgebracht hat. Wallenhorst, Professor und Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Université catholique de l’Ouest, wollte mit „Beschleunigen wir die Resonanz“ den von ihm verehrten Soziologen in Frankreich bekannt machen, was für Frankreich eine gute Idee ist, für deutsche Leser aber zur Folge hat, dass hier ein sehr basaler Grundkurs Rosa gegeben wird: Was ist das mit dieser Beschleunigung? Und wie kann Resonanz dem entgegenwirken? Rosa gibt brav Antworten: die neuen Technologien, die am Ende alles nur schlimmer machen. Und die Schule als Ort der Resonanz, ja nun, da müsste sich schon sehr viel ändern, „die Schülerinnen haben überhaupt keine Lust, dort zu sein. Ihre Blicke sind trüb und ihre Ohren taub.“ Und hopp, nächstes Thema.

Wallenhorst gibt sich mächtig Mühe, mit seinen professoralen Fragen selbst ein wenig zu brillieren: Ist Beschleunigung jetzt mit acceleration oder mit vitesse richtig übersetzt? – Was Rosa eher egal ist. Und man fragt sich bald schon: Suhrkamp, echt jetzt? 14 Euro? Für ein Büchlein, klein wie ein Taschenkalender? 77 winzig kurze Seiten, das Ganze dann auch noch aufgeteilt in Kapitel, mit Leerseiten dazwischen?

Da drängt sich die Frage auf, ob ein solches zum eigenen Buch aufgeblasenes Interview die von Rosa so dringend geforderte Resonanz auch nur ansatzweise erzeugen kann oder ob es nicht eher peinliches Symptom der Beschleunigung auf allen Ebenen ist: Auch Suhrkamp-Titel sind jetzt ohne mühsame Exkurse im Double-Speed-Modus zu konsumieren.

Dann macht doch lieber Tassen oder T-Shirts mit Rosas griffigsten Sprüchen, die kann man wenigstens anziehen oder sich die Welt damit schön trinken: „Heiligabend: Stress bis 17 Uhr, dann legen wir den Schalter um und hoffen auf Resonanz mit der Familie - da kommt das Gegenteil bei raus, nämlich triste Entfremdung.“ Aus einem seiner Vorträge. Auf Youtube. Ganz umsonst.

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