Die Dementoren wollen nicht. Zumindest nicht im ersten Anlauf. Plangemäß sollten sie jetzt bedrohlich vom Schnürboden auf ein Grüppchen tapferer Zauberer hinabschweben. Aber irgendwas klemmt. Daher senkt sich auf der Bühne des Hamburger Mehr!-Theaters statt seelenfressender Spukgestalten erst mal der eiserne Vorhang. Man könnte das als schlechtes Omen deuten - ausgerechnet bei der Medienpremiere von "Harry Potter und das verwunschene Kind" geht was schief!
Aber wenn die Macher dieser gigantischen Produktion, in deren Infrastruktur 45 Millionen Euro geflossen sind, an schlechte Vorzeichen glaubten, hätten sie längst aufgegeben: Am 15. März 2020 hätte ursprünglich Premiere im aufwendig umgebauten Theater am Hamburger Großmarkt sein sollen. Dann kam der Corona-Lockdown, zwei Tage vor Beginn des regulären Spielbetriebs. Auch die neuen Termine im Oktober 2020 und April 2021 verstrichen ungenutzt.
300 000 Zuschauer wollten ihr Geld nicht zurück, sie warteten
Doch die Firma Mehr-BB Entertainment bewies trotz eines Verlusts von 25 Millionen Euro einen langen Atem. Produzent Maik Klokow weiß, auf was für einer Goldgrube er mit der ersten nicht-englischsprachigen Lizenz für diesen Theater-Franchise sitzt. Die Marke Harry Potter bleibt ein weltweites Milliardengeschäft, daran ändern auch die öffentlichkeitswirksamen Angriffe auf die Autorin JK Rowling als angeblich Transgender-Menschen hassende TERF (Trans-Exclusionary Radical Feminism) nichts. Und die rund 300 000 Zuschauer, die vor Langem die zwischen 100 und 300 Euro kostenden Tickets für den fünfstündigen Bühnendreiteiler gekauft hatten, wollten nicht ihr Geld zurück. Sie warteten.
Auch an diesem Abend wartet das Publikum geduldig, bis sich der eiserne Vorhang wieder hebt. Als er es tut und die Dementoren ihren gruseligen Auftritt haben, brandet erleichterter Applaus auf. Unter 2-G-plus-Regeln kann das 1700 Zuschauer fassende Haus trotz der neuen Bund-Länder-Beschlüsse nach den Hamburger Corona-Bestimmungen unter voller Auslastung spielen.
"Harry Potter und das verwunschene Kind", eine kanonische Erweiterung des Potter-Universums, wurde am 30. Juli 2016 im Londoner Palace Theatre uraufgeführt. Die Produktion von Jack Thorne, basierend auf einer Originalgeschichte von JK Rowling, Thorne und John Tiffany, gewann rekordverdächtige neun Olivier Awards, die britischen Theater-Oscars. Der Erfolg wiederholte sich in den Vereinigten Staaten und in Australien.
Wer die Potter-Bücher nicht gelesen oder zumindest die Verfilmungen gesehen hat, wird sich hier nur schwer zurechtfinden. Es ist auch nicht einfach, ohne Spoiler allzu viel preiszugeben. Harry ist, 19 Jahre nach den Ereignissen des letzten Potter-Bandes, ein Bürokrat im Zaubereiministerium. Sein Sohn Albus ist ein isoliertes, unbeliebtes Kind, das im Schatten eines berühmten Vaters lebt. Albus' einziger wahrer Freund ist der ähnlich gemobbte Scorpius Malfoy, Sohn des Erzfeindes seines Vaters, Draco - oder doch der Sohn des "Dunklen Lords" Voldemort? Beide Jungs kommen im Zauberinternat Hogwarts in das vermeintlich böse Haus Slytherin.
Was folgt, ist eine typisch verschlungene Rowling-Geschichte, in der Zeitreisen eine enorm große Rolle spielen, ebenso wie ein einschneidendes Ereignis beim sogenannten "Trimagischen Turnier" in "Harry Potter und der Feuerkelch". Diverse alternative Zeitleisten geben Gelegenheit zu Einblicken in fanfreundliche "Was wäre wenn"-Szenarien inklusive, das darf man wohl verraten, eines Auftritts des bereits tot geglaubten Severus Snape.
Wenn man sich von den oft recht blasierten Kniesehnenreflexen freimacht, die nicht-subventioniertes Theater gerne auslöst, und das Potter-Stück für sich beurteilt, dann hat man es hier zwar einerseits mit einem epischen Spektakel zu tun, andererseits aber eben auch mit einer durchaus komplexen Betrachtung von Schuld, Opfer, schwierigen Eltern-Kind-Beziehungen und letztlich der Infragestellung jener manichäischen Welt, die Rowling ursprünglich erschaffen hat.
Die Bühne mit ihren gusseisernen Säulen und Bögen, ihren Holzvertäfelungen und beweglichen Treppen, ihren Uhren mit wirbelnden Zeigern und viktorianischem Mauerwerk hat Christine Jones der Londoner Station St. Pancras (nicht dem utilitaristischeren King's Cross, von dem aus der Hogwarts-Express abzufahren pflegt) nachempfunden. Das Design ist angesichts der Menge an Aufbauten ein Wunder an Flexibilität und lässt sich leicht in das Zauberinternat, einen Wald oder eine Kirche verwandeln. Während der Zaubererkämpfe schweben Kontrahenten und Mobiliar, ein Bücherregal mit sprechenden Bänden schluckt Menschen und spuckt sie wieder aus, die Besucher in Professor McGonagalls Büro rutschen durch einen brennenden Kamin herein, Menschen verwandeln sich auf offener Szene in andere Menschen.
In England trennt man nicht zwischen E- und U-Kultur, das Stück wurde frenetisch gefeiert
Doch dazwischen entspinnt sich eine Geschichte, bei der immer weniger klar erscheint, wer das "verwunschene" (im Original "cursed", also: verfluchte) Kind des Titels eigentlich ist. Harry - ein schön nervös-pflichtbewusster Markus Schöttl - der überleben musste, um die Welt zu retten, während viele andere starben? Albus, der so sehr unter diesem Erbe leidet? Scorpius, der ein herzensguter Nerd ist und doch mit dem Gerücht leben muss, den Lenden des urbösen Voldemort entsprungen zu sein? Mathias Reiser spielt diese Figur, die sich in den englischen Produktionen schnell zu einem Publikumsliebling entwickelte, mit aufgeregtem Stimmbruch-Kieksen. Es ist eine ziemlich erstaunliche erste Hauptrollenleistung für den jungen Schweizer, ebenso wie für Vincent Lang als gequälter Albus. Gemeinsam versuchen sie, die Fehler ihrer Eltern in der Vergangenheit auszubügeln und verursachen damit ein schlimmes Kontinuitätschaos. Es ist vor allem die Dynamik zwischen diesen beiden Außenseitern und ihre Freundschaft (sowie eine milde, vollkommen internatskompatible homoerotische Spannung), die diese Erzählung jenseits der Materialschlacht trägt.
In Großbritannien, wo eine Trennung zwischen E- und U-Kultur nicht existiert, wird eine Produktion wie diese auf Augenhöhe mit Shakespeare-Produktionen des National Theatre betrachtet. Ein Autor wie Simon Stephens, hierzulande als radikale Stimme des britischen Theaters rauf- und runtergespielt, war nach der Uraufführung hellauf begeistert. In Deutschland ist eine solche Art üppigen Sprechtheaters so ungewohnt, dass das "verwunschene Kind" in der Berichterstattung permanent fälschlich als "Musical" bezeichnet wird. Hunderte Effekte, ein elektronischer Soundtrack der Britin Imogen Heap, Merchandising einer weltweiten Marke mit der gleichen Inszenierung an mehreren Orten, das kennt man im Land der Stadttheater eben nur von "Starlight Express" und Ähnlichem.
JK Rowling hasst aber dem Vernehmen nach Musicals; für die Bühnenerweiterung der Potter-Welt kam nur eine Sprechtheater-Inszenierung infrage. Gesungen wird also nicht an diesem Abend. Aber es wird durchaus gezaubert.