Zum Tod von Harold Bloom:Das Leben eines Lesers

Harold Bloom in New York in 1990. (Mark Mahaney/The New York Times)

Harold Bloom erzählte sein Leben anhand von Lektüren. Er starb am 14. Oktober 2019 in New Haven.

(Foto: Jim Wilson/The New York Times)

Ein Kanon für die abendländische Literatur war sein Beitrag gegen die fortschreitende Zersplitterung der Gesellschaft: Am Montag ist der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom gestorben.

Von Thomas Steinfeld

Das letzte Werk des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Harold Bloom erschien im vergangenen April, unter dem Titel "Possessed by Memory", was man wohl als "im Bann der Erinnerung" übersetzen muss. Das Buch ist ein Abschied von der Literatur, die ihn ein Leben lang begleitete, und es endet mit einer Verbeugung vor Marcel Proust. Dieser spende Trost, schreibt Bloom, er lehre Geduld und führe, langsam und nachdenklich, in ein Erweckungserlebnis in der Kunst. Neunzig kleine Essays enthält das Buch. Viele davon handeln von Shakespeare, andere von John Keats, dem Hohenlied oder May Swenson, wobei stets deutlich ist, dass sich in diesen kurzen Stücken die Autobiografie eines Lesers verbirgt.

Harold Bloom erzählt sein Leben anhand von Lektüren, wobei er, der viele Debatten führte und Gegenstand vieler Debatten war, immer stiller zu werden scheint. Würdiger kann ein Leser nicht scheiden.

Das Ergriffen-Werden von der Dichtung war ihm wichtiger als alle Theorie

Von der Bedeutung, die Harold Bloom für die angelsächsische Welt und vor allem für die Vereinigten Staaten hatte, kann man sich in Deutschland, wo Menschen wie Benno von Wiese oder Fritz Martini schon lange dahingegangen sind, keinen rechten Begriff machen. Der akademische Gelehrte, der nicht nur zugleich Kritiker war, sondern auch repräsentativer Leser, ist einer Aufgabenteilung zum Opfer gefallen, die zuerst den Leser kassierte. Dass - und wie - ein Schriftsteller in der Lage war, ein poetisches Universum zu entwickeln, erschien Harold Bloom dabei stets als das stärkste Indiz literarischer Qualität. Die englischen Romantiker waren ihm deswegen stets näher als moderne Autoren, das Ergriffen-Werden von der Dichtung war ihm wichtiger als alle Theorie, und immer wieder kehrte er zu denselben Texten zurück, zu Shakespeare ("The Invention oft he Human", 1998) oder auch zu den Mythen und Überlieferungen des Alten Testaments ("The Book of J", 1990).

Dem Impuls, der Verehrung für die Gestaltung poetischer Universen verdankt sich auch das Buch, das in der Literaturwissenschaft sein wohl wichtigstes wurde: "The Anxiety of Influence" ("Einflussangst", 1995), in dem es um das Schriftstellertum geht und die Folgen der Anstrengung, der Tradition und allen Vorgängern ein eigenes Werk entgegenzusetzen.

Dem großen Publikum dürfte Harold Bloom vor allem durch sein Werk "The Western Canon" (2006) im Gedächtnis bleiben. Ähnliches hatte er seit den Achtzigern schon mehrmals versucht: einen literarischen Kanon zu entwickeln, der für eine abendländische Kultur tatsächlich elementar sei. Selbstverständlich fand er für diesen Entwurf vermeintliche Verbündete auch hierzulande. Doch ist dieses Projekt eines Kanons im Kern amerikanisch: geschrieben für ein Publikum, das durch die Perspektivierung der Literatur nach Geschlecht, Rasse und Klassenzugehörigkeit zunehmend disparater wurde und immer noch wird. Dieser Zersplitterung wollte er, der bis kurz vor seinem Tod Seminare an der Universität Yale gab, etwas Starkes, Verbindendes und Verbindliches entgegensetzen. Am Montag dieser Woche starb Harold Bloom im Alter von 89 Jahren.

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