Am Anfang ist N., um die es angeblich in diesem Buch geht, ein hübsches, sehr selbstbewusstes Hippie-Mädchen, das auf einer Klassenfahrt ihren Lehrer verführt. Am Ende ist sie eine frustrierte Sextouristin, die einem Gigolo aus der Dritten Welt zu einem deutschen Pass verhilft, wenn er ihr fünf Jahre lang ein treuer und leidenschaftlicher Gefährte ist.
Dazwischen liegen vier Jahrzehnte und 21 andere Männer, mit denen N. nie länger als zwei, drei Jahre zusammen war. Ein "Roman in 23 Paarungen" heißt der Untertitel von Harald Martensteins neuem Buch Gefühlte Nähe. Eine kaleidoskopartige Biographie soll das sein, zusammengetragen von all den Männern, die N. verlassen hat. Ob das trägt?
Auch der Autor zweifelt und kommt eigens hinter den Kulissen hervor, um sein Buch zu erklären, bevor er selbst in den Ring steigt. Er trifft seine Heldin auf der Buchmesse und stellt nicht ohne Genugtuung fest, dass die "arrogante, schöne, kluge N.", mittlerweile alt, dick und aufgeschwemmt ist: "Sie sah fertig aus." Eine versoffene Matrone ist das, ein Wrack, pleite überdies. "Ihre Zähne sahen aus wie das Holocaustmahnmal."
Mit vereinten Kräften schaffen er und der erfolgreiche Schriftsteller Pinsky die Volltrunkene schließlich auf ihr Hotelzimmer, und wenn dieser sich den Zustand der Frau sexuell zunutze macht, kommt man schwerlich umhin, in ihm eine Art Racheengel zu erkennen, der es N., stellvertretend für sein gedemütigtes Geschlecht, ordentlich heimzahlt.
Revanchefoul im Geschlechterkampf
Denn zumindest der Ich-Erzähler kennt sie bereits von früher. N. war schon in der Schule sein unerreichbarer Schwarm, den er chancenlos aus der Ferne anhimmelte. Jetzt, im Hotelzimmer, tut er wieder das, was er auch damals extensiv auf dem Schulklo tat: "Ich habe mir beim Zuschauen einen 'runtergeholt."
Gefühlte Nähe versteht sich als tragikomisches Sittenbild des Paarungsverhaltens geschlechtsreifer Stadtneurotiker. Im Grunde handelt es sich aber um nichts anderes als ein verbrämtes Strafgericht, ein Revanchefoul im Geschlechterkampf, bei dem sich Martenstein im Geiste der Blutgrätsche harmlos stellt. Von der strapazierten Columbo-Attüde des gutmütigen Trottels, dessen Gefahr darin liegt, beharrlich unterschätzt zu werden, lebt schon der Kolumnist Martenstein, der als eine Art Mario Barth für Zeit-Leser den extratumben Toren gibt. Genauso lässt er nun als Romancier einen täppischen Reigen mehr oder minder bewegter Männer auf die moderne Inkarnation der sündigen Frau Welt hereinfallen, um eine piepsige Vanitas-Litanei anzustimmen.
Doch all das wehe Weichei-Getue, die geschmerzte Männlichkeit des Frauenverstehers und jene Sorte preisreduzierter Melancholie, wie sie bei Dussmann an der Kasse ausliegt, sind nur Tarnung. Dass nicht allein die weibliche Hauptfigur, sondern auch die Männer, die an ihrem Faden zappeln, schemenhaft bleiben, liegt nicht daran, dass sie nur mit ein paar eilig herbeigezerrten Versatzstücken charakterisiert werden.
Es hat vielmehr damit zu tun, dass Martenstein immer schon die Unmöglichkeit der Liebe voraussetzt, die er zu beweisen vorgibt. Am Anfang hatte er über sein onaniersüchtiges Alter Ego geschrieben, "dass ihm die unkomplizierte Coverversion lieber war als der echte, hochkomplizierte und extrem arbeitsaufwendige Originalsong" (...) "Die gefühlte Nähe genügte ihm." Wenn die Dinge aber so liegen, muss man sagen: Thema verfehlt. Oder à la Martenstein: Auch dem Autor ist das Tempo-Taschentuch näher als nur irgendeine seiner Figuren.
Nach Thomas Hettche mit Die Liebe der Väter hat nun auch Harald Martenstein ein Buch über die Liebe geschrieben, das keines ist, sondern eine Klage auf den verhausschweinten Mann. Auf dem Vormarsch ist anscheinend eine neue Männerliteratur, die sich billiges revanchistisches Samenstaugewinsel auf die Fahne geschrieben hat und das für originell hält.
HARALD MARTENSTEIN: Gefühlte Nähe. Roman. C. Bertelsmann Verlag, München 2010. 224 Seiten, 19,99 Euro.