Hans-Ulrich Treichels Roman "Schöner denn je":Ironie und mittleres Elend

Berlin Charlottenburg; Altbau Wohnhaus mit klassizistischer Fassade am Stuttgarter Platz Berlin *** Berlin Charlottenbur

Führt einer hinter solchen Fassaden das bessere Leben? Haus am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg.

(Foto: Jürgen Ritter via www.imago-images.de/imago images/Jürgen Ritter)

Hans-Ulrich Treichel perfektioniert in seinem Roman "Schöner denn je" den Plot des Intellektuellen, dessen Leben nicht ganz so glänzend verläuft wie erträumt.

Von Hilmar Klute

Hans-Ulrich Treichel gehört zu jenen glücklichen Schriftstellern, die früh ihr Lebensthema gefunden haben. Bei Treichel ist es der eigene Weg aus dem Kleine-Leute-Milieu in den akademischen Mittelbau, den er in immer wieder überraschend neuen Auffächerungen erzählt. Selbstironische und poetisch eindrucksvolle Romane sind auf diesem autobiografischen Humus entstanden. "Anatolin" (2008) zum Beispiel, worin Treichel anhand einer Reise ins polnische Wartheland, von dort stammen seine Eltern, die eigene Zerrissenheit beschreibt, die auf einem dunklen Identitätszauber gründet: Die Eltern hatten Treichels Bruder 1945 bei ihrer Flucht nach Westen zurückgelassen und nach dem Krieg vergeblich nach dem Verlorenen suchen lassen - "Der Verlorene" ist der Titel von Treichels erfolgreichstem Buch von 1998. Im Schatten dieses Bruders oder besser: in der Leerstelle, die der Bruder hinterlassen hatte, wuchs Treichel auf.

Nach und nach hat sich Treichel vom Recherchedruck seiner früheren Erzählungen befreit und ein neues Subjektmodell konzipiert: den aus dem kleinmiefigen ostwestfälischen Kaff entkommenen Intellektuellen, der im alten Westberlin eine passable Stellung gefunden hat, aber nicht den großen Lebensentwurf vorweisen kann, der ihn zum Sieger über die allzu geringe Herkunft hätte werden lassen können.

Jetzt fügt Treichel diesem Sujet eine leichten und doch auch geheimnisvollen kleinen Roman hinzu: In "Schöner denn je" erzählt der Fachdidakt der Romanistik Andreas Reiss, wie er schon als Kind den Freund und Schulkollegen Erik bewundert hat, weil diesen eine schwer zu fassende "Fremdheit umwehte". Augenscheinlich wird diese Fremdheit in einem Mercedes, den schon der Heranwachsende fährt, im ferner gelegenen Landkreis, wo Erik wohnt, und in einer, so vermutet Reiss, besonderen Erlebnisfähigkeit, die es Erik ermöglicht, die Enge der Heimat nicht als so bedrückend zu empfinden wie Andreas: "Es kommt eben nicht darauf an, was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt." Sowohl Erik als auch Andreas ziehen nach der Schule ins eingemauerte Westberlin, aber hier endet auch das vermeintlich Verbindende. Erik wohnt in einer schönen Wohnung und macht eine Tischlerlehre, die ihm - so lautet sein am Reißbrett des Lebens gefertigter Plan - den Weg zu den Filmstudios ebnen würde, wo er dann als Filmarchitekt zu Erfolg und Wohlstand käme. Andreas versucht, dem nun scheinbar nahen, in Wahrheit weiterhin fernen Freund nachzueifern, und schreibt sich ebenfalls für Architektur ein.

Die Figuren sind ein bisschen den Erzähler-Ichs von Wilhelm Genazino verwandt

Aber man kann eben nicht sein Leben an den Plänen eines anderen ausrichten, nur weil man glaubt, das andere Leben habe bessere Veranlagungen zum Gelingen. Das ist die bemerkenswerte Grundierung dieses Romans: Die eigene, in weniger großem Stil angelegte Existenz ist so etwas wie die klägliche Variante eines vermeintlich gelungenen Lebens, dessen Nachteile sich nach und nach erweisen.

Andreas besinnt sich seiner Frankophilie, die sich vor allem auf seiner Liebe zum französischen Kino gründet. Er studiert Romanistik und verlagert seine Verehrung von Erik auf die Schauspielerin Hélène Grossmann, deren "mädchenhafte Befangenheit" seinem Temperament offenbar entgegenkommt. Treichel ist ein Spezialist für jene Verstiegenheiten, mit denen seine männlichen Figuren vor jeder falschen Siegerpose gefeit sind.

Ein bisschen sind sie den Erzähler-Ichs von Wilhelm Genazino verwandt, allerdings fehlt ihnen die pathologische Lust an der seelischen Selbstverstümmelung. Treichels Witz fügt sich dabei in die selbstironische Grundstimmung des Erzählten. Seine lakonischen Zustandsbeschreibungen erinnern an beste amerikanische Erzählkunst: "Wir lernten das Küssen auch ohne Bonbons, heirateten irgendwann und führten eine ... harmonische, allerdings kinderlose Ehe, die letztlich scheiterte."

Es geht in "Schöner denn je" - wie schon in "Menschenflug" (2005) - um die jahrelang gereiften Enttäuschungen und unverrechnet gebliebenen Verletzungen in lang dauernden Partnerschaften. Treichel versteht sich fabelhaft auf die Beschreibung dieser feinen Risse, die in ihrer Summe das Gebäude zum Bröckeln bringen. "Mit Selbstironie kann man keine Kinder zeugen" ist so ein bitter-komischer Treichel-Satz, den Andreas von seiner Ex-Frau Susanne zu hören bekommt.

Hans-Ulrich Treichels Roman "Schöner denn je": Hans-Ulrich Treichel: Schöner denn je, Roman. Suhrkamp, Berlin 2021. 175 Seiten, 22 Euro.

Hans-Ulrich Treichel: Schöner denn je, Roman. Suhrkamp, Berlin 2021. 175 Seiten, 22 Euro.

Fast nebenbei erfährt man übrigens, dass Andreas durchaus Kinder zeugen kann, eine frühere Freundin hat die Schwangerschaft abgebrochen. Der verehrte Erik ist sogar bereits als Schüler Vater geworden. In diesen kleinen Nebendramen steckt schon der Stoff für das ganze mittelgroße Elend. Nach der Trennung von Susanne nimmt Andreas Eriks Angebot, in seiner großen Charlottenburger Wohnung zu leben, an. Der einstige Mitschüler ist inzwischen wirklich ein anerkannter Filmarchitekt geworden und geht für drei Monate in die USA, sein Lebensplan scheint vollständig aufgegangen zu sein. Andreas durchforscht Schubladen und Schränke, um Erik zu "suchen", und er findet - da lässt sich Treichel die Cliffhangertechnik nicht entgehen - Röntgenbilder von Eriks Hirn, die auf nichts Gutes schließen lassen. Schnell rückt das Festnetz-Telefon - es ist Vorhandy-Zeit -in den Mittelpunkt und irgendwann ruft tatsächlich Hélène Grossmann durch, Andreas' verehrte Filmdiva , die natürlich auch mit Erik recht eng ist, und bietet Andreas an, sie einen Tag lang durch Berlin zu fahren.

Hans-Ulrich Treichel setzt diesmal, mehr als in seinen vorangegangen Büchern, auf eine perfekte Dramaturgie. Sorgfältig legt er von Anfang an seine Fährten, deutet Verbindungen an, die sich im Lauf der Geschichte als gut geölte Plot-Maschinen herausstellen, und baut seinen Roman nach klassischen Erzählprinzipien auf. So sehr, dass selbst dem armen Andreas Reiss irgendwann auffällt: "Dass jetzt auch noch das Telefon klingelte, war eine Szene wie aus dem Drehbuch." Vielleicht ist es auch kein Zufall, dass Treichel, der viele Jahre Professor am Leipziger Literaturinstitut war, ausgerechnet diesen exemplarischen Könner-Roman als erstes Buch nach seiner Pensionierung vor drei Jahren vorlegt. Immerhin ist es so auch eine Geschichte für Plot-Liebhaber geworden.

"Doch ich war nicht ihr Liebhaber. Das sollte ich nicht einmal denken. Ich sollte nicht einmal denken, dass ich nicht ihr Liebhaber war." Das sagt Andreas über die plötzlich so nahe Filmdiva Hélène. Und genau wegen solcher Sätze hat der kluge und störrisch witzige Erzähler Hans-Ulrich Treichel seine Verehrer.

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