Die Ausgangsfrage zu diesem Buch entspringt einem offengebliebenen Rätsel der modernen Geistesgeschichte. Worauf beruht die seltsam dauerhafte Präsenz von Denis Diderot seit über 200 Jahren, mit jeweils treuen Lesern wie derzeit Hans Magnus Enzensberger in Deutschland? Anders als Voltaire oder Rousseau, Kant und Schiller hat dieser Autor keine kurz zu benennende Hauptidee formuliert und, abgesehen von der "Enzyklopädie", kein über das Œuvre hinausragendes Einzelwerk hinterlassen, ja nicht einmal ein klares zentrales Anliegen zu erkennen gegeben. Alles schien den Enzyklopädisten gleichermaßen zu interessieren, die Malerei seiner Epoche wie das Denkvermögen von Blinden, die Kontroverse über die Determiniertheit oder Unvorhersehbarkeit des Weltgeschehens wie die sprunghafte Empfindungswelt eines musikalischen Genies.
Seit seinen Studentenjahren habe er sich vom französischen Aufklärungsphilosophen angezogen gefühlt, ohne genau sagen zu können, warum, gesteht der Germanist und Romanist Hans Ulrich Gumbrecht. Dass man Sympathie für diesen unaufgeregten Denker haben, ja sich bei ihm "wohlfühlen" kann, reicht als Erklärung nicht ganz aus. Und wenn er für uns heute gerade aus dem Grund bedeutsam wäre, dass er keine greifbare Zentralproblematik und keine brennende Botschaft zu vermitteln hatte? Wenn hinter seinem ins Periphere sich verlaufenden Werk ohne feste Konturen ein Denker stünde, der unsere Epoche wie kein anderer seiner Zeitgenossen anspräche? Diese Überlegung verleitete den Literaturwissenschaftler Gumbrecht trotz eines schon üppigen Publikationskatalogs, doch noch einmal "ein Buch mit Fußnoten" zu schreiben. Ein Buch allerdings, das über dem Fußmarsch des Kleingedruckten unten auf der Seite die Flügel spannt und weite geistesgeschichtliche Horizonte durchstreift.
Der verspielte Diderot könnte uns System- und Sinnwaisen eine neue Seite der Aufklärung vermitteln
Die unüberschaubar gewordene Literatur über Diderot fällt aus solcher Flughöhe nur noch vereinzelt ins Auge. Gumbrecht hält sich bei seinen zwischen Textsondierung und Panoramablick wechselnden Ausführungen strikt an seine Grundhypothese, dass der heitere, abschweifungsfreudige und verspielte Aufklärer Diderot ohne explizite Kernbotschaft uns postmodernen System- und Sinnwaisen eine bisher wenig erforschte Seite der Aufklärung vermitteln könne. Das führt allerdings mitunter auf komplizierte Umwege.
Denn wo das changierende Gesamterscheinungsbild Diderots direkt schwer fassbar ist, muss es zumindest spiegelbildlich umrissen werden. Einen solchen Spiegel findet Gumbrecht bei Hegel. Etwa zehn Mal wird der Aufklärungsphilosoph bei ihm erwähnt, speziell mit dem Dialogroman "Rameaus Neffe", den Hegel wohl in der Übersetzung von Goethe gelesen hat. Hegel sah in Diderots genialisch verzappelter Rameau-Figur, die in ihren permanenten Stimmungswechseln zwischen enthusiastischen, sarkastischen und opportunistischen Anfällen jede feste Weltordnung leugnet, eine Verkörperung dessen, was er als "prosaisches" Sein verstand: einen Zustand, der sich jeder Aufhebung in die "poetische" Form des Geistes verweigert.
Für Hegel war diese in seinem System nicht vorgesehene Figur ein Negativum. Als Möglichkeit scheint sie ihn aber doch interessiert, wohl auch irritiert zu haben. Und aus genau diesem Blickwinkel ist sie auch für Gumbrecht interessant. Er sieht den immerfort, pfeifenden, mimenden, drauflosredenden und dann wieder öde vor sich hinbrütenden Rameau-Neffen in Diderots Roman als Träger eines überstimulierten, zerrissenen Bewusstseins, das mit dem unseren gewisse Gemeinsamkeiten habe. Und der Philosoph Diderot habe diesem seinem Geschöpf, so vermutet Gumbrecht zu Recht, intuitiv wohl näher gestanden als dem im Roman als "Ich" auftretenden besonnenen Philosophen.
Dessen vom reflektierenden Bewusstsein geleitetem Hang, das unstete Verhältnis von Ich und Welt zu stabilisieren, stellt der pantomimische Tausendsassa Rameau ein Dasein gegenüber, das in seiner Vielgestaltigkeit auch diabolische Züge annehmen kann. Gumbrecht sieht in diesem Drang, alles zu verkörpern, ein "metabolisches" Verhalten. Nichts sei fixierbar an dieser alles vereinnahmenden Figur.
Doch hat uns die Philosophiegeschichte dieses Prinzip einer radikalen Singularität nicht in begrifflich exakt ausformulierter Form überliefert. Gumbrecht beschreibt es als ein Flimmern, ein vorausahnendes Wetterleuchten über dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, und er extrapoliert es aus einigen anderen disparaten Beispielen jener Epoche.
Der Impuls "einer außergewöhnlichen Freiheit des Denkens und der Phantasie"
Hier liegt indes ein gewisses Problem seines Buchs. Die provokante Kontingenz und semantische Offenheit, die Gumbrecht etwa aus Goyas "Caprichos"-Zyklus herausliest, die tiefe Sprachskepsis, die er in Georg Christoph Lichtenbergs "Sudelbüchern" oder die animalische Immer-Jetzigkeit des Mensch-Vogel-Wesens Papageno, die er in Mozarts "Zauberflöte" untersucht, mögen grob in seinen Argumentationsrahmen passen. In ihrer genealogischen Beziehungslosigkeit zueinander, die der Autor immer wieder betont, ergeben sie aber noch keine Phänomenologie einer "Prosa der Welt". Das epistemologische Raster ihrer spezifischen Existenzweise, in der unsere zeitgenössische sich reflektieren soll, ist zu weitmaschig gestrickt. Gumbrecht stößt hier an die Grenzen seines Unterfangens, begrifflich zu fassen, was sich der begrifflichen Fassbarkeit versagt.
Wo er hingegen quer durch Diderots Romane, seine philosophischen und ästhetischen Schriften der "Salons" sowie durch das enzyklopädische Projekt den Erscheinungsformen des radikal Singulären und Kontingenten nachspürt, ist sein Buch eine Quelle hochinteressanter Anregungen.
Beispielsweise eben zum Thema der "Kontingenz". Mit diesem Wort werden allgemein Phänomene und Situationen bezeichnet, deren Auftreten weder notwendig noch unmöglich erscheint. Als eine Kraft, die immer neue Möglichkeiten des Denkens, Vorstellens und potenziell auch Handelns eröffnet, weist der Begriff Kontingenz in die Zukunft. Als faktisches Ergebnis einst getroffener Entscheidungen reicht er in die Vergangenheit zurück.
Zwischen diesen Polen reitet in Diderots Roman "Jacques le Fataliste" der Titelheld mit seiner fixen Idee von der "großen Rolle dort oben", auf der alles schon geschrieben steht, neben seinem Herrn durch die Episoden ihrer gemeinsamen Abenteuer. Verzagtheit und der jähe Heldenmut, ganz allein etwa zum Kampf gegen ein Dutzend Straßenräuber im Nachbarzimmer einer schmierigen Herberge anzutreten, werden in der festen Überzeugung, dass ohnehin alles "dort oben geschrieben steht", im Roman immerfort neu austariert.
Hinter Diderots kapriziösem Erzählstil vorbei an jedem Kohärenzgebot macht Gumbrecht eine dritte Kontingenzdimension aus, in welcher die Instabilität zwischen Vergangenem und Künftigem auf eine neue Stufe gehoben wird. Statt Stabilisieren zusätzliches Mobilisieren, locker betrieben von einem entspannten Diderot, der bei seinen Lesern den Impuls "einer außergewöhnlichen Freiheit des Denkens und der Phantasie" auslöse. Allerdings auch auf die ständige Gefahr hin von Desorientierung und Verwirrung.
Darin sieht Gumbrecht eine gewisse Affinität zu unserer heutigen Kontingenzerfahrung, die im Bann der undurchschaubar gewordenen Komplexität der Welt unschlüssig zwischen Begeisterungstaumel und Alarmbereitschaft verharrt. Die sporadischen "Kontingenzfelder" vergangener Epochen, schreibt Gumbrecht in Fortsetzung eines von ihm in früheren Schriften schon entwickelten Gedankens, mutierten in "unserer breiten Gegenwart" zu einem "Kontingenzuniversum", in dem nichts mehr notwendig und nichts mehr unmöglich erscheint. Und Diderot sei dafür ein gewiss hilfreicher Gefährte.
Mangels klarer Zielsetzung hätte Diderot auf dem Arbeitsmarkt heute wenig Chancen
Nicht weniger interessant als solche geistesgeschichtliche Großwetterdiagnose sind im Buch auch die vom Philologen Gumbrecht eingestreuten Apropos und gelegentlichen Seitenhiebe. Gegen die Selbstverständlichkeit unter links-aufgeklärten Diderot-Interpreten, im Herr-Knecht-Verhältnis von "Jacques le Fataliste" den Diener als intellektuell und ethisch überlegen zu setzen gegenüber der dümmlichen Überheblichkeit seines Herrn, legt Gumbrecht aus dem Text ziemlich plausibel nahe, dass Diderot auch an der Figur des "Maître" zunehmend Gefallen gefunden haben könnte. Für Gumbrechts Deutungsansatz zu Diderot ist diese Ausbalancierung schon deshalb wichtig, weil durch zu viel Einseitigkeit ja das Perpetuum mobile der "metabolischen" Welteinstellung ins Stocken geraten würde.
Ein Exempel für diese Einstellung kann man in der über 20 Jahre dauernden Knochenarbeit Diderots an der "Encyclopédie" sehen. Gumbrecht erkennt in jenem nicht autoren- und subjektzentrierten Projekt einen Zug von Großzügigkeit. Wissen und Denken wird gesammelt, verarbeitet und zur stets neuen Verarbeitung weitergegeben. Diese unaufhaltsame Fluidität kommt uns Heutigen nicht unbekannt vor, was Gumbrecht - nur "als Übung und Experiment in historischer Phantasie" - zur Frage verleitet, wie so ein Diderot sich in unserer Gegenwart verhalten würde.
Mit seiner Freude am Disparaten, seiner Verweigerung endgültiger Urteile und seiner Neigung zum bewusst willkürlich hingeworfenen Apropos würde er uns wohl befremden und hätte auf dem Arbeitsmarkt mangels klarer Zielsetzung gewiss wenig Chancen, mutmaßt Gumbrecht.
Heißt das nicht, den Querläufer unter den Aufklärungsphilosophen zu unterschätzen? Er, dessen vergnügtes Rudern gegen den Strom eines eindimensionalen Aufklärungsverständnisses in diesem Buch so sorgfältig und elegant untersucht wird, könnte uns mit seiner Haltung in Staunen versetzen. Indem er etwa auf unser Verlangen nach Sinngebung wie Rameaus Neffe antwortet, Aufgabe der Toten sei es nicht, Ruhe zu geben, sondern lustig weiter zu rumoren.
Hans Ulrich Gumbrecht: "Prosa der Welt". Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020. 398 Seiten. 36 Euro.