Nachruf auf den SZ-Filmkritiker Hans Schifferle:Im Labyrinth der Leidenschaften

Hans Schifferle

Hans Schifferle, 1957 bis 2021.

(Foto: Robin Thomas/SigiGötz-Entertainment)

Hans Schifferle, der in mehr als zwei Dekaden als schwärmerischer Filmkritiker das SZ-Feuilleton mitprägte, ist gestorben.

Von Tobias Kniebe und Doris Kuhn

Man braucht nur einen seiner Texte zur Hand zu nehmen, und schon ist man umfangen und verführt von dieser speziellen Sicht auf das Kino, die Welt, das Leben. Etwa wenn er über Maureen O'Hara schreibt in dem Film "The Quiet Man" von John Ford, und wie sie John Wayne darin begegnet. "Sie schaut mit leuchtenden, grünbraunen Augen auf Wayne und uns, ihre rechte Hand versucht das vom Wind zerzauste Haar zu bändigen. Dann wendet sie sich wieder ab, sie hat die Bedeutung dieses magischen Blickkontakts erkannt und verschwindet in den dichten grünen Wiesen, wird eins mit der Traumlandschaft Irland. Wayne fragt erstaunt seinen Begleiter, was er denn da gesehen habe. Ob dies Wirklichkeit sei oder ein Märchen. Sein alter Weggefährte antwortet lakonisch: ,Das ist doch nur ein Mädchen.'"

Nein, möchte man mit Hans Schifferle sagen, der in mehr als zwei Dekaden als schwärmerischer Filmkritiker das SZ-Feuilleton mitprägte, es ist eben nicht nur ein Mädchen. Es ist alles im Kino so viel mehr. Man kann sich selbst dabei angeschaut und gesehen fühlen bis tief ins Herz, man kann schicksalhaft berührt werden, den magischen Blickkontakt hüten wie einen Schatz und immer weiter suchen bis zum Ende seines Lebens. Das hat Hans Schifferle vorgemacht und beschworen in seinen Texten, und das fällt uns als Erstes ein im Moment der tieftraurigen Nachricht, dass seine eigene Suche viel zu früh zu Ende ging. Hans Schifferle ist, nach längerem Kampf gegen den Krebs, am vergangenen Dienstag im Alter von 63 Jahren gestorben.

Zu seinem Auftritt gehörte eine Bikerkluft in jeder Lebenslage

Schifferle wurde 1957 in München geboren, im Arbeiterviertel Laim, durch seinen Vater war er aber zeitlebens Bürger der Schweiz. Der war Elektro-Obermeister, auch die Mutter kam aus einfachen Verhältnissen. Der Aufstieg in die vermögende Klasse gelang durch Patente des Vaters für Kabelkanäle. Das ermöglichte dem Sohn, der Abitur machte und in München Germanistik und Theaterwissenschaften studierte, früh die sorgenfreie Entfaltung seiner Leidenschaften. Diese waren einerseits das Motorradfahren, zelebriert durch eine Bikerkluft in jeder Lebenslage, von den Stiefeln bis zum Motorradanstecker auf der Lederjacke, plus obsessivem Sammeln und Restaurieren von Vintage-Maschinen. Und andererseits das Kino.

Schon früh zog es Schifferle stark zu den Spätvorstellungen und den Genrestücken, dorthin, wo eben auch seine geliebten Bikerfilme ihren Ort hatten, Kathryn Bigelows "Loveless" etwa, "Electra Glide in Blue" von James William Guercio, mit Highway-Cops auf Harleys, oder Marianne Faithful ganz im schwarzen Leder, als "The Girl on a Motorcycle" von Jack Cardiff. Von dort war es nicht mehr weit zum Melodram, das betörende Frauen feierte, zu Horror- und Fantasy-Welten, zum Fetischkino und zum Porno. Auch hier trieb ihn der Grundimpuls des obsessiven Forschens und Sammelns. Der führte ihn seit Anfang der Achtzigerjahre ins Münchner Filmmuseum, wo Enno Patalas die Cinephilen mit seinen Retros versammelte und Schifferle auch Platzanweiser war, und ins Kellerstudio fürs Dunklere und Abseitigere, das Werkstattkino in der Fraunhoferstraße.

Schifferle war ein Kind dieser großen Zeit vor dem allgemeinen Durchbruch der Videokassette, vor dem Internet und dem allzeit greifbaren Weltarchiv des vergangenen Filmschaffens. Man musste sich wirklich noch versammeln, um der gemeinsamen Leidenschaft zu frönen - und jene, die dabei waren, berichten von einer großen, später nie mehr so greifbaren Kameraderie. Eine Generation von Filmkritikern zog da gemeinsam durch die Stadt, von den offenen Freitags-Screenings an der Filmhochschule, mit Helmut Färber und Ulrich Kurowski, zum Filmmuseum um sechs und um neun, und dann weiter in die Billardsalons und in die Nacht.

Mehr als jeder andere aber blieb Schifferle dieser Zeit treu. Bis zuletzt schrieb er mit Stift und Zettel und tippte das Ergebnis in die Schreibmaschine. Den Schritt, sein Gedächtnis einem Computer zu überantworten, ist er nie gegangen, dafür aber durfte ihm keine Quelle und kein noch so teures Filmbuch entgehen, bis die Sammlung auf viele Zimmer verteilt werden musste. Dass dieses Wissen aber vor der Leinwand verifiziert, ekstatisch erlebt oder erlitten und sehr lebendig war, konnte man in jedem seiner Filmtexte spüren. Die ersten erschienen 1984, in Broschüren des Filmmuseums und in der Münchner Stadtzeitung, dann in der Zeitschrift steadycam, Fanzines wie Howl und Büchern wie "The Late, Late Show".

"Wie bin ich oft nachts aus dem Keller gekrochen, sehnsüchtig, fertig, verzaubert, depressiv..."

Näher an die schnellen Produktionsweisen einer Tageszeitung heranzurücken, war dann noch einmal ein großer Schritt. Schifferles erster Text für die Süddeutsche erschien 1991 auf der sogenannten Videoseite, die Michael Althen erfunden hatte, um die schrittweise Erschließung verborgener Filmschätze zu feiern. Da schrieb er über "Sweet Dreams" von Karel Reisz, der vom Leben der Country-Sängerin Patsy Cline handelt, die 1963 bei einem Flugzeugabsturz starb und zur Legende wurde, idealer Stoff für den Romantiker Schifferle: "Das Leben, die Liebe, die Lieder, sie sind eins, nicht im Leben, sondern in der Kunst. Unterm Regenbogen wird Charlie weiter tanzen mit Patsy. Ein Traum ist schmerzlich wahr geworden."

Die nächsten Dekaden war er vor allem dann zur Stelle, wenn es darum ging, aus dem Labyrinth der Leidenschaften die schönsten und manchmal auch entlegensten Juwelen zu präsentieren. Das konnten die großen Diven des Hollywood-Melodrams sein, wie Jennifer Jones, Maureen O'Hara oder Julie Christie, denen er Kränze aus reinem Herzblut wand; das waren schüchterne Vampire und sehnsuchtsvolle Monster, Regisseure des Unbedingten wie Nicholas Ray oder Michael Cimino, Pornostars mit der Klasse von Königinnen oder auch ein kindlicher Welteneroberer wie das "Schweinchen Babe", da machte er keinen Unterschied.

Der Weite seiner Interessen, denen er sich stets mit derselben Mischung aus Schüchternheit und unbedingter Loyalität näherte, verdankt dieses Feuilleton viel. Schifferle war der Mann für die Kurzfilmtage in Oberhausen genauso wie für das queere "Verzaubert"-Festival, Dünkel oder Vorurteile kannte er nicht, die wildesten neuen Genrefilme aus Asien waren ebenso sein Ding wie die Horror-Entdeckungen vom "Fantasy Filmfest". Er war es auch, der noch liebevoll hinsah, wo andere längst abwinkten, etwa bei unermüdlichen lokalen Überzeugungstätern wie Eckhart Schmidt oder Roland Reber.

"Wie bin ich oft nachts aus dem Keller gekrochen, sehnsüchtig oder fertig, verzaubert oder depressiv...", schrieb er einmal über das Werkstattkino. Aber wer ihn kannte, kann hier jeden anderen dunklen Kinosaal einsetzen, in dem er Abend für Abend bereit war, sein Herz aufs Neue zu verlieren. "Ich suche es immer noch, immer weiter, wieder, das Monster, das mich anspringt, die Fee, die mich küsst. Cinema maudit, süße Unterwelt."

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