Spät in einer Nacht des Oktobers 1979 traten Hans Keller und ich aus der Hamburger Punkkneipe "Marktstube" und kühlten unsere von Musik, Tanz und Debatte überhitzten Schädel. Bis in den späten Abend hatte er als Graphiker und ich als Redakteur an der neuen Ausgabe der Sounds gearbeitet. Die Cassette mit der phantastischen Specials-Debüt-LP war wieder rauf und runter gelaufen. Hans hatte sie von der Plattenfirma besorgt, der englischen, versteht sich, die deutsche wusste noch gar nichts von dieser Veröffentlichung.
Hans war ein, mit seinen 35 Jahren zwar schon etwas älterer, aber um so hingebungsvollerer Anhänger des von den Specials und den anderen Two-Tone-Bands ausgelösten Ska-Revivals, ein Rude Boy bevor jemand anders in Deutschland es war - außer vielleicht Jäckie Eldorado, mit dem er ein paar Jahre zuvor auch schon im Kampf um den Titel der erste Punk Kopf an Kopf gelegen hatte.
Hans lebte in einem Loft in Tribeca, das eigentlich Iggy Pop gehörte, und entdeckte jeden Tag etwas Neues
Heute Abend hatte jemand auch Musik von den Merton Parkas und den Lambrettas mitgebracht, Bands, die sich an den Outfits und Verkehrsmitteln der Sechzigerjahre-Mods orientierten. In seinem bedächtigen, aber scharf gesetzten Schweizer Akzent setzte Hans zu einer autobiographischen Reflexion faustischen Ausmaßes an: Nun bin ich schon Teddy Boy, Rocker, Mod, Hippie, Psychedeliker, Punk und vieles mehr gewesen - soll ich mich jetzt auch noch dem Mod-Revival anschließen?
Kurz darauf war der kleine, energische Schnauzbartträger mit dem lakonischen Humor nach New York umgezogen. Im November 1981 erschien in Sounds seine Titelgeschichte über Hip-Hop, der komplett unbekannte Grandmaster Flash war auf dem Cover. Es war der erste längere Text über das neue musikalische und kulturelle Phänomen in einer europäischen Publikation, die ersten und lange Zeit einzigen Interviews mit den wichtigsten Figuren der damals noch weitgehend ohne Veröffentlichungen groß gewordenen Bewegung.
Hans lebte in einem Loft in Tribeca, das eigentlich Iggy Pop gehörte, und entdeckte jeden Tag etwas Neues: Hipster-Salsa von Coati Mundi, die neuen Frauenbands wie Y Pants, Pulsallama und Bush Tetras. Er zog mit August Darnell alias Kid Creole durch die Clubs und spielte Geige in einer Undergroundband, die im A7 auftrat, in Hamburg hatte er noch die Geisterfahrer (mit Michael Ruff, Matthias Schuster und Holger Hiller) mitbegründet. In New York nahm er den Geigenkasten nachts mit, um sich mit einem angesagten und von ihm lustvoll übertriebenen deutschen Akzent an den Türstehern vorbeizuschlawinern: "Vee Are Pfrom The German Band Eisenstein". Sofort durften wir in diese After Hours Bar, wo sich außer uns auch David Bowie und Nile Rogers gerade rumtrieben.
Am 24. Februar 1945 war er in Männedorf bei Zürich geboren worden. Wie so viele Schweizer wurde er Graphiker und kam als eine sehr romantische, langbärtige und langhaarige Version nach Hamburg, der Pressestadt, die schon immer auf diese Stylemigranten aus dem Süden angewiesen war. Bald kam er zu Sounds - wo wir uns 1979 trafen - opferte die Haare neuen Identitäten und wurde zum ersten deutschsprachigen Punkjournalisten.
Er führte üppige visuelle Tagebücher, war Comicexperte und -zeichner, gab später die Fachzeitschrift Strapazin heraus, liebte aber alle Künste und hatte neben seinem Entdeckertalent und seiner Begeisterung für Selbsterfindungen, einen ausgesprochenen Drang nach Süden, erst nach Italien, später nach Südamerika. Auch für Spex berichtete er später immer wieder über das je nachdem ganz Neue und das ganz Tiefe: House, Italodisco, Merengue. In einer Jubiläumsnummer veröffentlichte er eine rasante biographische Skizze, der wir den Titel "Memoiren eines Dauerbrenners" verpassten. Um so weniger kann ich glauben, dass Hans Keller am 8. Januar in Zürich gestorben ist. Er wurde 76 Jahre alt.