Hans Joachim Schädlichs Buch "Das Tier, das man Mensch nennt":Liebe den Einzelnen

Hans Joachim Schädlichs Buch "Das Tier, das man Mensch nennt": "Kalt wie eine Hundeschnauze" ist General von Trotha, der hier die Parade von Überresten des Marine-Expeditionskorps abnimmt, die nach Deutschland zurückverlegt werden.

"Kalt wie eine Hundeschnauze" ist General von Trotha, der hier die Parade von Überresten des Marine-Expeditionskorps abnimmt, die nach Deutschland zurückverlegt werden.

(Foto: Scherl/SZ Photo)

Hans Joachim Schädlich verkargt die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts in fast 50 Miniaturen - ohne zum Misanthropen zu werden.

Von Lothar Müller

Ein schwarzer Faden durchzieht die moderne Literatur. Jonathan Swift, der diesen Faden des abgrundtiefen Misstrauens gegen die Menschen mit eingewebt hat, musste sich sagen lassen, er sei ein Misanthrop. Das bestritt er nicht, machte aber in einem berühmt gewordenen Brief an seinen Schriftstellerkollegen Alexander Pope vom 29. September 1725 Gründe für sein Misstrauen geltend. Er hatte gerade seinen Roman "Gullivers Reisen" beendet, nun wollte er den Begriff des Menschen als vernünftiges Lebewesen - "animal rationale" - seiner Falschheit überführen: "hauptsächlich hasse und verachte ich das Tier, das man Mensch nennt, obwohl ich herzlich John, Peter, Thomas usw. liebe".

Hans Joachim Schädlich hat diesen Satz Jonathan Swifts, in dem die Liebe zu einzelnen Individuen das Misstrauen gegen die Gattung nicht zähmen kann, zum Motto seines neuen Buches gemacht und "Das Tier, das man Mensch nennt" in den Titel gesetzt. Fast fünfzig knappe Prosastücke sind in dem schmalen Band versammelt. Viele handeln von Untaten, die wie der Autor dem zwanzigsten Jahrhundert entstammen, manche reichen zurück in ältere Zeiten, in denen Frauen unter der Folter bekannten, Hexen zu sein, einmal gerät ein zerstreuter Herr in die jüngste Gegenwart, in eine Veranstaltung mit dem Gesundheitsminister und dem Leiter des Seucheninstituts, in der er die Maske aufsetzen muss und seinen Spazierstock verliert. Eine alte Frau verteidigt ihre letzte Liebe, einen jungen Marokkaner, gegen die Vorhaltungen ihrer Freundin.

Schädlich ist 1935 im Vogtland geboren, in der noch jungen DDR erwachsen geworden und hat als Linguist an der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften gearbeitet, ehe er Schriftsteller wurde. So wie Swift die freundlichen Menschenbilder seiner Zeit dementierte er durch sein Schreiben von Beginn an die selbstgewiss-zukunftsfrohe Rhetorik des Aufbruchs zum Sozialismus. Erst wanderte sein Debütband "Versuchte Nähe" (1977) aus der DDR in die Bundesrepublik aus, kurz danach folgte der Autor. Er hat viel geschrieben seither, manchmal auch schmale Romane wie den über Friedrich den Großen und Voltaire ("Sire, ich eile"), aber der kleinen Prosaform, die schon sein Debüt prägte, ist er immer treu geblieben.

Hans Joachim Schädlichs Buch "Das Tier, das man Mensch nennt": Hans Joachim Schädlich: Das Tier, das man Mensch nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 Seiten, 24 Euro.

Hans Joachim Schädlich: Das Tier, das man Mensch nennt. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 160 Seiten, 24 Euro.

(Foto: Rowohlt)

Als 1937/38 die Moskauer Prozesse stattfanden, lebte er schon. Inzwischen geht er auf die neunzig zu. Dieses neue Buch wirkt, als sei er noch einmal durch seine Bestände gegangen, habe hier und da etwas aus den Schubladen gezogen, entlang an seinen Lebensthemen. Eine Totenliste, Opfer des "Pockennarbigen", steht zu Beginn, in "Die Nacht der Poeten" verschmelzen auf kaum mehr als zwei Seiten Stalin und sein Henker zu einer Terroreinheit. Aus wenigen Worten nur entsteht das Bild des Henkers. Grelles Licht fällt auf seine deutsche Walther-Pistole und seine lederne Metzgerschürze.

Schädlich besitzt einen Sprachfilter, der die Stoffe verkargt, den Dialogen alles Dokumentarische nimmt. So klingt im Jahr 1928 auf einer Abendgesellschaft die Sprache der Illusion: "Marta Feuchtwanger sagt: ,Die Rechten kommen und gehen. Antisemiten hat es in Deutschland schon immer gegeben.' Lion Feuchtwanger: ,Wir wollen uns nächstens in Berlin ein Haus kaufen.' Marta Feuchtwanger: ,Am liebsten im Grunewald.'" Es braucht nicht viele Zeilen bis zum Exil der Feuchtwangers.

Ein hoher Funktionär der nationalsozialistischen Kulturpolitik startet in der jungen DDR eine zweite Karriere. Ein Vater begeht Liebesverrat an seinem Sohn, der sich daraufhin an der Ostfront zu einem Spähtrupp meldet und nicht zurückkehrt. Der Dichter Daniil Charms geht im Stalinismus unter. Eine Kommunistin entkommt und bleibt Kommunistin. Eine Überlebende berichtet von der Selektion in einem Lager, der sie als einziges Familienmitglied entkam. Mohammed Amin al-Husseini, Großmufti von Jerusalem, lebt als Gast Hitlers in einem Kurort in der Lausitz und sucht den Schulterschluss mit der SS. Dem Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, fällt es nicht schwer, für eine kinderlose Bekannte einen Neugeborenen zu organisieren, den sie adoptieren kann. In Verbrecherfiguren aus Deutschland und Russland entfesselt die Lust am Töten sich selbst, ohne ideologischer Antriebe zu bedürfen.

Neben den Anekdoten der Grausamkeit gibt es auch Glücksmomente des Gelingens

Manche Stoffe sind bekannt, ein knapper Anmerkungsteil gibt über die Quellen Auskunft. Schädlich prägt ihnen das Siegel seiner Prosa auf. In ihr verliert die Hohlform der Anekdote alles Anheimelnde. "Kalt wie eine Hundeschnauze" ist der General von Trotha, der seinen Vernichtungsbefehl gegen die Hereros exekutiert. Hintereinanderweg lassen sich diese Prosastücke nicht lesen. Sie brauchen einen gewissen Abstand. Eine Kette der Grausamkeiten bilden sie nicht.

Auch fehlt ihnen alles Triumphale, die Untaten sammeln sie nicht als Trophäen, die Genugtuung des Moralisten über die Unmoral der Welt ist ihnen fremd. Künstlererzählungen, wie sie in dem Band "Vorbei" (2007) enthalten waren, sind eingestreut. In ihnen gibt es neben Elend und Abhängigkeit der Künstler, darunter Beethoven, auch Glücksmomente des Gelingens, der Dankbarkeit, der Anerkennung. Schädlich fasst das Tier, das man Mensch nennt, ins Auge. Ein Misanthrop ist er nicht.

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