Hanns Zischler und Berlin:Einer geht noch

Schauspieler Hanns Zischler

Der Schauspieler Hanns Zischler während der Berlinale 2009 - der Hauptstadt hat er nun ein Buch gewidmet.

(Foto: dpa)

Hanns Zischler ist der aufgeräumte Finsterling des Kinos - und wohl der klügste Schauspieler Deutschlands. Er schreibt elegante Bücher. Jetzt auch über Berlin. Ein Spaziergang durch eine viel zu große Stadt.

Von Hilmar Klute

Die U2 Richtung Rathaus Spandau, Haltestelle Heerstraße - weiß der Teufel, warum sich Hanns Zischler ausgerechnet hier treffen will, zumal er sagt, den Teufelsberg kennt man ja, den brauchen wir nicht mehr anzugucken.

Die Bahn ist seltsamerweise voll mit stillen dicken Leuten, keine Musiker, keine "Ick-hab-da-ma-ne-Frage-ick-bin-gerade-raus-ausm-Entzug"-Bittsteller mit Pappbecher. Die Attraktionen hier im westlichen Westen von Berlin sind auf den ersten Blick überschaubar: Olympiastadion und Friedhof. Aber mal sehen. Hanns Zischler, der klügste unter den deutschen Schauspielern, hat einen großen Essay über Berlin geschrieben, die Stadt, in der er seit über vierzig Jahren lebt und von der er meint, dass sie sich in einer Weise verändert hat, die jetzt danach schreit, sie wieder zu verändern, architektonisch und ideell.

Hanns Zischler ist der aufgeräumte Finsterling des deutschen Kinos. In seinem Gesicht läuft oft eine Parallelhandlung ab, so als würde in ihm der eigentliche Gedanke des Films sichtbar. Er hat mit den großen Regisseuren gearbeitet, mit Godard gedreht, mit Wenders, Lilienthal und Spielberg, und seit einiger Zeit treibt Hanns Zischler auch lustige Sachen im Internet. Er nennt sich dort Hanno Verbier und macht Reklame für seine ziemlich robuste Therapie-Innovation, die Expositionsmaßnahme nach Verbier. Da muss zum Beispiel sein gehemmter Probant Gert Sacher, Patient null, mit seinem Vater brechen, weil der ein patriarchalisches Arschloch ist, und am Ende leert Verbier mit dem alten Sacher viele Flaschen vom besten Rotwein.

Das muss man sich ansehen, wenn man verstehen möchte, wie einer mit seinem schauspielerischen Realismus die größte Komik erzeugen kann. Wenn Hanno Verbier im roten Pullover an seinem Schreibtisch sitzt und einen Riesling aus dem Weingut Leitz abschmeckt, fast verträumt ins Leere blickt und dem Publikum dann erklärt, dass dieser Riesling exakt das mache, was alle Rieslinge tun, nämlich: "Er greift hinten an den Kiefer und beißt nach."

Da paart sich größte Verarschungskunst mit der klugen Ökonomie des großen Schauspielers.

Hanns Zischler steht an der Heerstraße und sagt als Erstes das mit dem Teufelsberg, den man ja kennt. Der Teufelsberg ist einer der Trümmerberge von Berlin, "ein namenloses Grabmal der aufgeschütteten Stadtreste", wie Zischler in seinem neuen Buch "Berlin ist zu groß für Berlin" schreibt. Es ist so paradox: die Stadt ist voller alter, der Geschichte abgerungener und der Natur überantworteter Reservate, aber sie spielen für die Menschen in dieser Stadt kaum eine Rolle mehr. Urbanismus wird in ungebremste Ausdehnungs-Euphorie umgemünzt, die Stadtachsen werden zugestellt mit tölpelhaft hingeworfenen Bauprojekten. Dabei hat es in Berlin einmal eine sehr kluge, sehr menschenfreundliche Architekturideologie gegeben, sagt Zischler.

Aber nein, Hanns Zischler will jetzt nicht auf den Teufelsberg, er will lieber runtergehen zu diesem kleinen seltsamen See, den Sausuhlensee am untersten Punkt des großen Friedhofs zwischen Trakehner-Allee und Heerstraße, um den sich die Gräber der großen toten Berliner gruppieren. Man muss höllisch aufpassen, dass man nicht unfreiwillig dem See entgegenrutscht, die Wege sind nass und von Schneeresten aufgeweicht. Arno Holz, Zischler bleibt vor dem großen roten Grabstein mit der Silhouette stehen. Gott, ja, wer kennt heute noch Arno Holz, den Dichter der Phantasus-Verse, den Erfinder der Mittelachsen-Lyrik? "Aber sehen Sie sich das an", sagt Zischler. "Da steht sein Name, seine Lebensdaten und von seiner Frau Anita nur der Vorname." Und da habe es früher noch diesen unglaublichen Grabspruch gegeben. Man muss ein bisschen mit der Schuhspitze den Schnee wegkratzen, dann kann man das noch lesen: "Mein Staub verstob, wie ein Stern strahlt mein Gedächtnis." Ach, wenn Arno Holz geahnt hätte, wie gut gehofft und schlecht erfüllt seine Losung ist.

Utopia der Weltläufigkeit

Hanns Zischler ist Ende der Sechziger-jahre zum Studium nach Berlin gekommen, und wenn er hier, im kalten Regen über dem Heerstraßen-Friedhof, sagt, er sei bis heute imprägniert vom alten West-Berlin, dann heißt das nicht, dass das ummauerte alte Vineta von besonders großstädtischem Reiz gewesen wäre. Zischler kam damals in die sehr konzentrierten akademischen Welten der Freien Universität. Er hat beim großen Paul-Celan-Exegeten Peter Szondi studiert, jenem großen, mit der Erfahrung der Verfolgung und der Schuld beladenen Germanisten, der sich im Herbst 1971 im Halensee ertränkt hat, ein Jahr nach Celans Selbstmord in der Seine. Und er gehörte zum Literarischen Colloquium, wo Walter Höllerer den Studenten und jungen Schriftstellern erklärte, dass in Deutschland gute Texte nur dann entstehen, wenn ihre Hersteller wissen, dass auch in anderen Ländern gute Texte geschrieben werden. Höllerer hat im miefigen Westberlin ein akademisches Utopia der Weltläufigkeit installiert.

In dieses Klima kam Zischler direkt aus der deutschen Provinz; er ist in einem fränkischen Dorf aufgewachsen, fing in München mit dem Studieren an und kam in Berlin früh in Theaterkreise, er debütierte an der Schaubühne. Peter Szondi und Peter Stein - aber wenn man ihn als intellektuellen Schauspieler bezeichnen möchte, ist der eloquente Zischler eher ein Schulterzucker: "Worüber soll ich als Schauspieler nachdenken?" Er hat das Theater, die Filmschauspielerei gewissermaßen als frühe Lockerungsübung zum Studium betrieben. "Wenn ich Festkörperphysik studiert hätte, wüsste ich genau, was es bedeutet."

Ohne die übliche keifende Schimpferei

Aber die neuen französischen Philosophen waren alles andere als Festkörper, und als Zischler anfing, Jacques Derrida zu lesen, begann er auch etwas zu verstehen, was es in Deutschland so bis dahin nicht gab: dass Sprache selbst Gegenstand des Denkens sein kann. 1972 begann Zischler damit, Derridas "Grammatologie" ins Deutsche zu übersetzen, eine Arbeit, die nach zwei Jahren an ihr Ende kam, und es war dies auch das Ende des beruflichen Philologen Zischler. Er ging als Dramaturg und Regieassistent an die Schaubühne, damals noch am Halleschen Ufer, und avancierte neben Bruno Ganz und Rüdiger Vogler zu einem der meistbeschäftigten Charakterdarsteller des neuen deutschen Films. Wie kam das alles zustande, diese für einen deutschen Künstler ungewöhnliche Kombination aus Denken und Spielen, innen und außen? "Mein ganzes Studium war Recherche", sagt Zischler, "alles war von einer zielgerichteten Neugier geprägt."

Diese zielgerichtete Neugier spürt man auch, wenn man Zischlers Berlin-Buch liest, dieses sehr unsentimentale und gelassene Flaneurs-Stück, das ohne die übliche keifende Berlin-Schimpferei auskommt. Zischler läuft durch seine Stadt und zeigt, was eigentlich sehr schön und gelungen ist, aber leider irgendwie von dieser Stadt absorbiert wurde.

Kurz: die Parks verlotterten

Der Brixplatz im Stadtteil Westend. Der Platz hieß vor dem Zweiten Weltkrieg Sachsenplatz und war eine Künstlerkolonie - Max Schmeling lebte hier mit seiner jungen Frau Annie Ondra. Der Dichter Joachim Ringelnatz hatte den Sachsenplatz berühmt gemacht, weil er aus dem Biotop vor seinem Haus eines Tages eine Nachtigall hörte und ein im Rap-Ton gehaltenes Gedicht auf den Vogel schrieb: "Es sang eine Nacht . . . eine Nachti . . . Ja Nachtigall Am Sachsenplatz." Heute erinnert ein Relief an diese glückliche Verbindung zwischen dem Vogel und dem berühmten Mann mit dem Vogelgesicht.

Aber Hanns Zischler interessiert die Nachtigall eher im direkten ökologischen Zusammenhang mit dem Park, einer Art Nachbildung der Mark Brandenburg für Großstadtbedürfnisse. Der Architekt Erwin Barth hat dieses Refugium Anfang der Zwanzigerjahre entworfen zum Wohle der naturentfremdeten Stadtbevölkerung, aber die Stadt selbst konnte mit der Wohltat nicht allzu viel anfangen und überließ die Miniatur-Natur den Willfährigkeiten der Großnatur, kurz: die Parks verlotterten.

Dass der Brixplatz heute in einem ansehnlichen Zustand ist, verdankt er den Anwohnern, welche die Pflege selbst in die Hand genommen haben, weil der Bezirk sich nicht zuständig fühlte. Es gibt einen kleinen Lehrgarten am Rand des Brixplatzes, den Barth noch angelegt hatte, der aber im Lauf der Jahrzehnte verwilderte und beinahe verschwand. Der Bezirk kümmerte sich nicht, irgendwann begriffen ein paar Anwohner, dass sie nicht auf das Kulturempfinden der Behörden setzen dürfen, und begannen, den kleinen Garten selbst zu pflegen - heute ist er als ein rührend-liebevolles Kleinod botanischer Wissensvermittlung zu bewundern.

Berlin und die Zuständigkeiten, das ist ohnehin ein eher unerfreuliches Kapitel, und Hanns Zischlers stadtpolitische Vision lautet: weniger Zuständigkeiten bei den Bezirksbehörden und mehr Zentralismus in der städtischen Verwaltung. Aber Utopien sind ja bekanntlich dazu da, eine bessere Zukunft zu spiegeln anstatt einen besseren Zustand herbeizuführen.

Das Wiener Kaffeehaus am Steubenplatz, ein behaglich gespiegelter Retro-Raum, hier sitzen Omas mit Mützen auf dem Kopf, die digitale Boheme hat es bisher nicht geschafft, sie oder das, was von ihr übrig geblieben ist, klebt an den Laptops im St. Oberholz in Mitte. Hanns Zischler lässt sich erst mal ein großes Stück Apfelkuchen mit Sahne kommen.

Was wäre die Lösung?

"Ich glaube nicht an die Vision, die Kreativen werden es hier schon machen", sagt Zischler. Und genau so wenig hält er das Wowereit'sche Prinzip der Hauptstadt als Partymeile für hilfreich. Weil sich Berlin nach der Wende nicht richtig konturiert hat, soll die Stadt ihren Reiz jetzt aus der beständigen Veränderung beziehen. Mal als Eventstadt mit wechselnder Kulisse, mal als Entfaltungsbiotop für spanische Touristen. "Die Stadt als Gabentisch", sagt Zischler, das könne es nun wirklich nicht sein. Für das Leben in der Stadt sei es abträglich, wenn in ihr statt einer fassbaren Kultur ein ständiger Kulturwechsel stattfinde.

Und es kommt einem ja wirklich vor, als feuere sich die Stadt ständig mit immer denselben Reisigbündeln an; der schiere Ausdehnungsdrang der Stadt, der laut Zischler seinen Anfang im 19. Jahrhundert nahm, als Stadt und Umland beinahe sinnlos mit Schienennetzen, Straßen und U-Bahnhöfen durchsetzt wurde. Es wird ständig zu viel und am Bedarf vorbeigebaut, so als müsste man den viel zu großen Raum auf Teufel komm raus zustellen mit repräsentativen Bauten, beispielsweise den Hotelscheußlichkeiten am Potsdamer Platz oder dem aktenschrankähnlichen Luxuswohnungstempel Yoo von Philippe Starck am Schiffbauerdamm. Was zu viel ist: Vorzeigezeug. Was zu wenig ist: Wohnraum, den auch Leute bezahlen können, die nicht die Kohle haben, ein Appartement in den Kronprinzengärten zu beziehen.

Gebaut werde, sagt Zischler, ohne dass die Stadt verdichtet wird. Das Hansa-Viertel, Zischler hält es für eines der eher glücklichen Bauprojekte der Stadt, sei zwar auf dem dichtesten Viertel Berlins gebaut, aber es fehle jedwede Infrastruktur. Ja, Berlin ist zu groß für sich selbst. Und was wäre die Lösung? Architekten haben keine, Urbanismuskritiker haben keine. Vielleicht wäre ein topographisch geschulter Herkules die Lösung. Oder wie Zischler sagt: "Eigentlich müsste man die Stadt wieder zusammenschieben."

Wenn man vom Steubenplatz Richtung Olympische Straße geht, hat man das Olympia-Stadion im Blick, auch so ein Bauwerk, das vor allem eine monumentale Geschichtsklatsche ist. Zischler hat seine Schiebermütze aufgesetzt und sieht jetzt ein bisschen so aus wie einer von den großartigen Berlinern, die man in den klugen Milieuzeichnungen aus selbstbewussteren Berliner Zeiten kennt. Eigentlich, sagt Zischler, und er hat den Vorschlag auch in seinem Buch unterbreitet, müsse man zumindest den Namen, den das kalte Architekturmonstrum trägt, umwidmen. "Ich plädiere schon lange dafür, das Stadion in Jesse-Owens-Stadion umzubenennen", sagt Zischler.

Und es stimmt ja auch: wie könnte eine Stadt souveräner mit ihrer braunen Vergangenheit umgehen, als wenn sie ihr fürchterlichstes Monument nach dem Mann benennt, der die Olympischen Spiele 1936 gewonnen hat und dem der Führer natürlich nicht die Hand reichen wollte.

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