Hannibal, ein Dirigent des Todes:Der Sieger, der verlieren musste

Keiner war so dicht daran, Rom in die Knie zu zwingen, wie der karthagische Feldherr - gut für uns, dass er trotzdem scheiterte. Seine berühmten Kriegselefanten hatten es übrigens schwer mit dem feuchten Winter in Italien.

Joachim Käppner

Es muss ein atemraubender und Grauen verbreitender Anblick gewesen sein. Das Glitzern der Morgensonne auf Zehntausenden eiserner Helme, die Speere von 70.000 Legionären, eine Walze aus Stahl, die gewaltigste Streitmacht der Epoche.

Hannibal

Büste von Hannibal

Sie verfolgte keine Strategie oder Taktik außer jener der Vernichtung durch schiere Kraft; und als ihre Soldaten am 2. August 216 v. Chr. das seichte Flüsschen Aufidus bei Cannae überschritten, schien der Moment gekommen: den Karthager Hannibal und sein Heer, halb so groß wie das der Römer, zu erdrücken.

Hannibal hatte im Herbst 218 die Alpen überquert, sein Heer über verschneite Pässe und durch Hinterhalte heimtückischer Bergbewohner geführt, direkt ins Herz seines Erzfeindes Rom, eine unerhört wagemutige, ans Selbstmörderische grenzende Expedition. Karthagos Stern war seit dem ersten Punischen Krieg eine Generation zuvor gesunken, die Zukunft gehörte den Siegern, den Römern; und sie wussten es.

Sie beherrschten die See, ihre Legionen waren den üblichen Söldnerheeren ihrer Zeit in jeder Hinsicht überlegen. Sie waren sich ihrer Stärke und ihrer Sache vielleicht so sicher wie zwei Jahrtausende später die Amerikaner in Vietnam; wie sie folgten sie dem Prinzip search and destroy, finde den Feind und vernichte ihn. Und, bei allen Grenzen des Vergleichs, sie unterschätzten ihren Gegner ebenso sträflich.

Der Sieger, der verlieren musste

Hannibal hatte bereits drei römische Heere geschlagen, im Frühnebel am Trasimenischen See waren 217 mindestens 10.000 Legionäre gefallen. In Cannae wichen die keltischen Söldner Hannibals in wohl ehrlichem Entsetzen vor den dicht gestaffelten Römern zurück, diese setzten nach - und liefen in den Untergang. Hannibal, ein Dirigent des Todes, hatte die Reiter und die stärksten Teile des Heeres auf die Flanken gestellt und umfasste die römischen Reihen wie mit einer gewaltigen Schlinge, und je schneller sie vorstürmten, desto schneller zog sie sich zu.

Dirigent des Todes

Den zusammengedrängten Römern nutzte ihre Anzahl nichts, wer innen stand, wartete hilflos ab, bis die Reihe an ihn kam, ein grässliches Massaker, dem wohl 60 000 Legionäre zum Opfer fielen. "Flucht war nicht möglich, und Quartier ward nicht gegeben", schreibt Theodor Mommsen in seiner "Römischen Geschichte", und "es ist vielleicht nie ein Heer von dieser Größe so vollständig und mit so geringem Verlust des Gegners auf dem Schlachtfeld vernichtet worden wie das römische bei Cannae".

Es war einer jener raren Momente, in denen die Geschichte buchstäblich den Atem anhält. "Hannibal ante portas", Hannibal vor den Toren, geriet zum sprichwörtlichen Ruf des Schreckens, der über die Römer gekommen war. Doch Hannibal kam nicht vor die Tore. Das Risiko eines Marsches seines geschwächten Heeres auf Rom, gesichert von einer Kette von Festungen, schien ihm zu groß. Hannibal zog in den Süden Italiens, wo er über Jahre vergeblich versuchte, Roms Bundesgenossen zum Abfall zu bewegen.

Am Ende war der Krieg verloren und Karthago eine Mittelmacht von Roms Gnaden, die nicht lange währte. Man weiß nicht, ob der Angriff gelungen wäre. Aber wenn je eine Chance bestand, dann in den Tagen nach Cannae. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, verspielte Hannibal den Sieg ausgerechnet im Moment eines Triumphes, der Weltgeschichte schrieb.

"Du verstehst zu siegen, Hannibal, aber den Sieg zu nutzen verstehst du nicht", soll sein Reiterführer Maharbal nach der Schlacht von Cannae gerufen haben, aber das ist wohl eine Erfindung, eine Metapher für die schwere Wahl, vor der Hannibal stand. Pedro Barceló, der 2004 eine großartige Hannibal-Biografie verfasst hat, geht sogar davon aus, dass Hannibal Rom gar nicht stürmen und vernichten wollte: Er habe in den Kategorien der alten Welt gedacht, in denen der Unterlegene Verstand annimmt und Kompromisse schließt.

Rom schloss keine Kompromisse

Man wird es niemals wissen, was Hannibal in diesem Augenblick bewegte; die Quellen verraten leider fast nichts über seine Persönlichkeit, was für ein Mensch er war hinter jenem "überragenden Geist und Willen", den der Chronist Polybios rühmte. Um so erstaunlicher ist die Bereitschaft, mit der Historiker, Romanautoren und später Filmregisseure Hannibal bestimmte, meist heroische persönliche Wesenszüge verleihen. Zuletzt war dies so im BBC-Doku-Drama, welches Pro Sieben ausstrahlte und das, den Karthager als übellaunigen Rübezahl darstellend, wohl eher zu den betrüblicheren Werken des Genres zu zählen ist.

Hannibal bleibt populär. Selbst in Internet-Chatrooms wird seine Feldherrnkunst bei Cannae gern mal zitiert, etwa im Zusammenhang damit, dass "es einen doch immer freut, wenn der Tabellenführer abgewatscht wird". Bei aller Schlichtheit des Ausdrucks ist doch anerkennend zu bemerken, dass der Chatter ungeachtet der Pisa-Studie mit dem Namen des Karthagers nicht nur Hannibal the Cannibal aus dem "Schweigen der Lämmer" verbindet.

Hannibals historische Gestalt aber entzieht sich allen Deutungsversuchen. Das Bild, das die Nachwelt von ihm prägte, sagt mehr aus über diese jeweilige Welt als über den Karthager selbst. Die römische Überlieferung verzerrt ihn zum Dämon, zum Spross der Löwenbrut seines Vaters Hamilkar Barkas, welche die Rache des Vaters am Erzfeind vollziehen sollte. Und doch konnte Rom Hannibal den Respekt nicht ganz versagen. Vier Jahrhunderte später ließ Septimius Severus, der erste Kaiser des römischen Imperiums, der - wie Hannibal - aus Nordafrika stammte, dessen Grabmal prächtig restaurieren.

Sehnsucht nach dem guten Herrscher

Der geschlagene Napoleon verbrachte sein einsames Exil auf der vom Wind gezausten Atlantikinsel Sankt Helena mit Betrachtungen über Hannibal, "den wagemutigsten von allen, vielleicht den erstaunlichsten, so kühn, so sicher, so groß in allem", womit er ebenso gut und wahrscheinlich überhaupt sich selbst meinte.

In Deutschland wurde der Feldherr Gegenstand romantischer Verklärung, in der sich die Sehnsucht nach einem guten, alle Widersprüche aufhebenden Herrscher widerspiegelt - woran sich bis heute wenig geändert hat. In historischen Romanen findet sich ein idealisierter Karthager, der den echten, so schemenhaft seine Wesenszüge bleiben müssen, wahrscheinlich von Herzen belustigt hätte: eine Art Kriegerphilosoph mit scharfem Schwert und weichem Herzen, eine Mischung aus multikulturellem Freiheitskämpfer und antikem Robin Hood.

Der Sieger, der verlieren musste

Seine Zuspitzung fand dieses Bild in Gisbert Haefs' Schmöker "Hannibal - der Roman Karthagos", einer jener wieder in Mode gekommenen Historienschinken, die dem Leser die größte Freude sind, sofern er nicht den Fehler macht, die Erzählungen über prächtige Elefanten, so schöne wie hörige Gespielinnen und stets zu großen Worten aufgelegten Heroen mit der Realität zu verwechseln.

Werkzeug einer untergehenden Ordnung

In Haefs' Buch erscheint Rom, kaum verhüllt, als Allegorie auf das Hitlerreich - ein düsteres Imperium mit einer Militärmaschinerie, die niederwalzt, was sich ihr in den Weg stellt, bösartig, herrschsüchtig, beängstigend. Und Hannibal ist der Mann, der es wagt, dem Reich des Bösen entgegenzutreten, ein ungleicher Kampf und eigentlich ohne Aussicht geführt, mit Waffen aber, auf die der Gegner bei all seiner Macht nicht gefasst ist: Witz und Phantasie, hehren Zielen und edelmütigen Getreuen.

Haefs' Hannibal ist das Werkzeug einer untergehenden, aber gerechteren Ordnung: "Dies ist die Geschichte des letzten Heros der freien alten Welt", heißt es darin, und der romanhafte Hannibal philosophiert, als sei er der Vorsitzende des UN-Kriegsverbrechertribunals: Alle Städte und Völker "haben das gleiche Recht. Ich wollte nur, daß Rom dieses Recht auch Karthago zugesteht. Aber Rom gesteht es niemandem zu, nur sich." Der echte Hannibal hielt seinen Soldaten vor dem Aufbruch nach Italien eine ähnlich klingende und doch ganz andere Rede, die Livius überliefert; darin schmäht der Karthager die Römer als "höchst unmenschliches und hochmütiges Volk, das überall besitzen und überall entscheiden will".

Mit noch größerem Recht ließ sich dies aber von Karthago sagen, dessen imperialer Unterwerfungsdrang vielleicht regional bescheidener war als der Roms, aber dennoch war seine Welt nichts weniger als frei oder am gleichen Recht aller orientiert. Roms großer Gegner war eine merkantile Kolonialmacht, die den Unterworfenen in Libyen oder Spanien nichts Besseres anzubieten hatte als die Ketten der Knechtschaft.

Karthagos Stiefkind

Karthago war faszinierend und anziehend, eine gewaltige und schillernde Metropole am Meer, gegen die Rom damals beinahe rückständig wirkte. Doch ihr Herrschaftssystem besaß keine übergeordnete Idee und beruhte auf Schrecken, ihre Kulte waren düster, ihre Interessen zu egozentrisch, um dem Vielvölkerstaat ihres Mittelmeerreichs eine gemeinsame Identität zu geben. Karthago, die gewaltigste Festung ihrer Zeit, wagte es nicht einmal, die anderen Städte im eigenen Machtbereich zu ummauern - dies hätte diese zum Widerstand geradezu eingeladen, machte den Römern ihre späteren Invasionen aber ungewöhnlich leicht.

Hannibal war eine der herausragendsten Persönlichkeiten der Antike und doch ein untypisches Stiefkind seiner Stadt. Mommsen beschreibt den Staatsmann, der wie "kaum ein anderer Besonnenheit und Begeisterung, Vorsicht und Tatkraft zu vereinigen verstanden hat. Er war ein großer Mann. Wohin er kam, ruhten auf ihm die Blicke aller."

Er war ein großer Mann, aber das Imperium, für das er kämpfte, war seiner Erscheinung nicht ebenbürtig. Hannibal konnte grausam sein, er lebte in einer grausamen und überaus gewalttätigen Zeit; doch die perfiden Martern und Quälereien, die andere karthagische Feldherren und auch die titanische Erscheinung seines Vaters Hamilkar - der die Stadt vor den libyschen Aufständen rettete und Spanien eroberte - als Herrschaftsmittel praktizierten, hat er meist vermieden. Sein Geist verstieß gegen alle Konventionen und konnte ihre Grenzen doch nicht sprengen.

Bornierte Gegenspieler

Hannibal hat versucht - das erklärt die erstaunliche Treue seiner Soldaten -, aus Söldnern und zur Waffe Gepressten so etwas zu machen wie Staatsbürger in Helm und Rüstung; aber daraus wurde nicht viel, die Treue seiner Männer galt ihm und nicht Karthago, wo man seinen Reformen verständnislos und voll Misstrauen begegnete.

Allein der Versuch aber zeigt, dass Hannibal in seinem historischen Gegner, der römischen Republik, etwas erkannte, das seiner Welt fehlte: eine innere Stärke, ein Zusammenhalt, etwas wie eine verbindende Idee. Die Borniertheit seiner Gegenspieler und die gnadenlose Auslöschung Karthagos durch Roms Legionen im dritten Punischen Krieg 146 machen es schwer, diesen entscheidenden Unterschied zu erkennen.

Die Römer aber, die bei Cannae fielen, und jene, die den alten Hannibal 202 unter Scipio im nordafrikanischen Zama schließlich besiegten, kämpften für ihre Heimat, sie waren, so Mommsen, Bürger und nicht Söldner: "Während die karthagischen Heere nichts zusammenhielt als die Fahnenehre und der Vorteil, fanden sich die römischen durch alles vereinigt, was sie an das gemeinsame Vaterland band."

Ein letzter taumelnder Elefant

Beide Nationen waren Lichtjahre von den völkerrechtlichen Normen der heutigen Staatenwelt entfernt. Aber Rom hat geleistet, wozu Karthago und selbst ein siegreicher Hannibal niemals in der Lage gewesen wären: auf Basis der griechischen Kultur die Grundlagen für diese Normen zu schaffen, das Recht, den übernationalen Gedanken.

216, bald nach Cannae, schloss Karthago einen Vertrag mit Makedonien. Darin ist die Rede "von den Göttern, die auf unserem Feldzug mit uns sind". Die Götter haben Hannibal bald verlassen. 183 beging er im fernen Exil, in Bithynien, Selbstmord. Aber sein Name blieb - der eines tragischen Helden, dessen Niederlage das beste war, was sich die Nachwelt wünschen konnte. Aber vielleicht verehrt sie ihn gerade darum.

Seine gewaltigen Kriegselefanten übrigens, die auf keinem Historiengemälde fehlen, gingen schon im ersten feuchten Winter in Italien ein. Nur ein Einziger überlebte, krank und geschwächt taumelte er noch eine Weile durch die Provinzen Roms, ein trauriges Menetekel für das Schicksal seines Herrn und seiner Stadt.

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