Süddeutsche Zeitung

Hannah Arendts Buch über Rahel Varnhagen:Keine Bleibe in der Wirklichkeit

Lesezeit: 7 Min.

Die Kritische Edition von Hannah Arendts Biographie über die Salonnière Rahel Varnhagen ist auch ein großes Lehrstück darüber, was es bedeutet, ein echtes Gespräch zu führen.

Von Insa Wilke

Mitte Februar konnte man erleben, wie ein Gespräch scheitert. Hätten die Einladenden Hannah Arendt gelesen, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm gekommen. Anlass war der zweite Jour Fixe der SPD, ironischerweise unter dem Motto "Kultur schafft Demokratie". Zu Gast: FAZ-Feuilleton-Chefin Sandra Kegel. Anfangs tauschte man mit der einige Phrasen über die Bedeutung von Kultur aus. Aber dann ging es auf einmal um etwas.

Hintergrund: Im SZ-Magazin vom 5. Februar hatten sich 185 Schauspieler und Schauspielerinnen geoutet, um eine Debatte um die anhaltende Diskriminierung in unserer heteronormativen Gesellschaft anzustoßen. Kegel bewertete die #actout genannte Aktion als larmoyant und stellte in einem kleinen Kommentar in ihrem Blatt deren Berechtigung infrage. Darauf reagierten nun beim SPD-Jour-fixe die beiden Schauspieler*innen Bettina Hoppe und Heinrich Horwitz, der gegen Homophobie engagierte Autor Johannes Kram und der Vorsitzende der queeren SPD Berlin, Alfonso Partisano. Ihnen wurden dafür jeweils drei Minuten zugestanden.

Lässt man #actout, Kegels Kommentar und die Reaktionen darauf beiseite und blickt nur auf dieses Gespräch und seine Struktur, so ergibt sich folgendes Bild: Vier Personen konfrontieren eine Journalistin mit ihren Erfahrungen und mit der Wirkung, die ihr Text hatte. Für die Journalistin eine schwierige Situation, weil die Macht-Konstellation in der Regel eine andere ist. Unsereins ist nicht geübt darin, sich verteidigen zu müssen. Aber von außen betrachtet: Endlich ein wirklicher Gesprächsanfang! Der wurde dann aber abgewürgt.

Interessant, wer alles nicht lassen kann von seiner Diskursmacht

Man gewann schnell den Eindruck: Eigentlich war an ein Gespräch gar nicht gedacht, sonst hätten sich die Gastgeber für eine Moderation vorbereitet und Ihren Gast auf die Auseinandersetzung eingestellt. Beides aber war sichtlich nicht der Fall. Es wurde vielmehr ein Lehrstück geboten, das vom Gegenteil einer Gesprächsabsicht handelte, weil die Einladenden, unterstützt von einem weiteren ehemaligen Verleger, nicht von ihrer Diskursmacht lassen wollten.

Diskursmacht hat, wer länger als drei Minuten reden darf, wer andere unterbrechen und sogar stumm stellen darf, wer ohne Begründung bestimmt, welche Textdeutungen "abwegig" sind und wer oder was die SPD "ist". Wer "unmenschliche Rhetorik" und "stalinistische Schauprozesse" gegen Kritik und Erfahrung in Stellung bringt, und wer dann obendrein noch behauptet, man verstehe die andere Person, fühle genauso, sei politisch "identisch". Diskursmacht will nicht abgeben, wer am Ende dieser würde- und empathielosen Veranstaltung gut gelaunt sagt: Für mich war das jetzt eine positive Erfahrung, und großzügig zu einem "echten, ausführlichen Gespräch" einlädt, weil "wir den Diskurs führen müssen". Diskursmacht hat, wer "die, die anders sind", auffordert, doch tolerant zu sein und nicht immer gleich "bösen Willen" zu unterstellen. Und jetzt kommt Hannah Arendt ins Spiel. Und zwar mit der Kritischen Ausgabe ihrer Rahel Varnhagen-Biographie, die im Januar erschienen ist.

Ich "bin von außen ganz verschüttet, drum sag' ich's selbst", schrieb Varnhagen in einem Brief 1805. Im Zeitgeist der Achtziger aufgewachsen liest man so einen Satz schnell als aufmüpfige Tat unter widrigen Umständen und erfreut sich daran. Aber: Deutsche Jüdin, Frau und Ausgegrenzte, die sich selbst ermächtigt - das ist alles eine Fehllektüre.

Hannah Arendt hat das schon vor fast hundert Jahren verstanden und später auch akribisch beschrieben. Ihre Biographie "Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik" wirkt in der fast 1000 Seiten starken Kritischen Ausgabe, die die Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn jetzt erstellt hat, wie die entscheidende Zäsur in ihrem Werk. Ein geniales Buch, das ein halbes Jahrhundert und ein ganzes Leben durchwandert hat, die Brüche "1933" und "1945" umspannt und von zwei Interessen geleitet ist: der konsequent innerjüdischen Perspektive und der Überzeugung, ohne Einsicht in die "Verschiedenheit der Menschen" werde es keine Grundlage geben für eine gemeinsame Welt. (Hört die SPD noch zu?)

Arendts Auseinandersetzung mit Rahel Varnhagen reicht weit zurück. Eine Freundin schenkte der Fünfzehnjährigen 1921 Varnhagens "Buch des Andenkens". 1933, kurz vor ihrer Flucht aus Deutschland, hatte Hannah Arendt die erste Fassung der Varnhagen-Biographie fertig. Das Typoskript dieser "Berliner Fassung", das im Nachlass von Karl Jaspers bewahrt blieb, macht Hahn nun erstmals für alle zugänglich. Dem Text sind die bedrängenden politischen Umstände eingeschrieben, unter denen er in fliegender Eile fertig gestellt wurde. Vergleicht man ihn mit der ersten deutschen Buchausgabe von 1959 wird deutlich: die Welt ist eine andere geworden und Arendt setzt sich anders zu ihr ins Verhältnis. Es hat außerdem fast etwas von einem Thriller, wie in den Anmerkungen und dem Nachwort die mentale Landschaft der Nachkriegszeit hervortritt. Etwa, wenn es um die irre Publikationsgeschichte geht oder die Auseinandersetzung um den deutschen Buchtitel, in dem der damalige Lektor, ein ehemaliger SS-Obersturmbannführer, das Wort Jüdin streichen wollte.

Verblüffender sind jedoch die Kontinuitäten: Gedanken, die schon in den ersten Aufsätze aus den Jahren 1931 bis 1933 sichtbar werden, dann 1933 klar im Text stehen, sich in der englischen Übersetzung von Clara und Richard Winston spiegeln, die erstmals 1958 in London erschien und hier in der überarbeiteten amerikanische Buchfassung von 1974 abgedruckt ist. Es sind Fragen, um die Hannah Arendt von 1921 bis zu ihrem Tod kreiste, wenn es um Rahel Varnhagen ging und die vielleicht in der Forschung, aber nicht in der breiteren Rezeption verstanden wurden. Noch 1975 erklärt sie in einem Brief: "I did never identify myself with Rahel; I was interested in what she called a Schicksal (...) and the Jewish question."

Als Arendts Varnhagen-Buch in Deutschland erschien, war das Interesse groß. Ungefähr die Hälfte der Rezensionen, so erfährt man, erschienen aber erst 1963, als Doppelrezension mit den Besprechungen zu "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen". Überraschend, ausgerechnet diese beiden Bücher? So, wie das "Eichmann"-Buch kein gewöhnlicher Bericht ist, ist das "Varnhagen"-Buch keine gewöhnliche Biographie. Die Achse, durch die sie verbunden sind: Arendts Frage nach dem Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden als innerjüdische Frage.

Die Denkwege führen hier bis in heutige Gesellschaftskritik

"Jüdinsein" hieß im 19. Jahrhundert, erklärt Hannah Arendt 1933, "nicht mehr im Ghetto, aber ohne Bürgerrecht leben, nicht mehr an die Tradition gebunden sein, aber die Arbeit der Assimilation noch vor sich haben". Das Versprechen an die Juden war: Schutz und Akzeptanz gegen Anpassung. Und damit sei das "Judesein" zu einem persönlichen Problem geworden. Denn jeder musste "einzeln" den Weg aus dem Judentum finden. Verbunden seien die Juden nur noch durch ihren Willen gewesen, rauszukommen.

Interessant, welche Denkwege sich von hier aus ins Werk von Hannah Arendt spannen - und bis in heutige Gesellschaftskritik. In ihrer Dissertation über Augustins Liebesbegriff kritisiert sie, dass der Einzelne nach dem christlichen Liebeskonzept nur in der Liebe zu Gott mit seinem Nächsten verbunden sei, also als Individuum völlig vereinzelt werde. Im Totalitarismus-Buch erklärt sie, der Verlust der Menschenrechte finde statt, "wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert", wenn es ihn nur noch im Singular gebe. In ihrem berühmten Buch "Vita activa" sieht sie eine Gefahr für die Gesellschaft nicht in der "Selbstentfremdung" des Einzelnen, sondern in seiner "Weltentfremdung", wenn er nur noch "Selbstinteressen" verfolge. Alles Gedanken, die von Rahel Varnhagens Worten inspiriert wurden. Worten wie: Leben, Schicksal, Welt, Erfahrung, Geschichte, Wirklichkeit.

Wenn im Eichmann-Buch Arendts Aussage, "Nichtteilnehmen" sei das einzige Kriterium von "Schuld und Schuldlosigkeit", auf die Zusammenarbeit der Judenräte mit den NS-Behörden bezogen und als Verrat missverstanden wurde, wird die Varnhagen-Biographie noch 1971 von Käte Hamburger als "Rahel durchweg höhnisch diffamierende Buch" fehlinterpretiert.

Hannah Arendt ist auf einem ganz anderen Level als ihre Kritiker, wenn es um Varnhagens Verortung zwischen Paria und Parvenu oder Eichmanns Dekonstruktion zum "Hanswurst" geht: Beide Bücher exemplifizieren den Kern ihrer politischen Theorie. Teil dieser Theorie ist, sich als Jüdin ins Verhältnis zur Welt zu setzen. Darum hat sie nach 1945 den Anfang ihres Textes geändert und statt der Familiengeschichte die Flucht sowie Rahel Varnhagens Bekenntnis zum Judentum an den Anfang gestellt - mit einem Fragezeichen.

Arendt analysiert im Folgenden, wie Varnhagen exemplarisch ihr ganzes Leben mit der "Rückverwandlung des Unglücks, als Jüdin geboren worden zu sein" beschäftigt ist. Die Mittel: romantische. Die "unendliche Reflexion" der romantischen Philosophie baue, so Arendt, den Innenraum zwar zur Festung gegen das Außen aus, führe aber dazu, dass es "keine Welt mehr" gebe, "in der man handelt". Das ist ein Frontalangriff auf romantisches Denken, das heute ganz grundlegend unser Selbstverständnis bis hinein in Authentizitätsforderungen, Reality Shows und Verschwörungstheorien prägt. Wer mit dieser Überzeugung Gespräche führe, brauche kein Gegenüber, sondern nur noch Zuhörer.

Rahel Varnhagen schließe sich aus der Wirklichkeit aus, wenn sie sich zum Leben selbst erkläre, schreibt Arendt. Wer das Leben selbst sei, verliere seine Individualität. Ihren erfahrenen Schmerz mache sie als "Indiskretion" produktiv. Tatsächlich beruht ja auf der Umkrempelung ihrer Innenwelt nach außen bis heute ihr Ruhm als Autorin. Nur, den Anlass für den Schmerz, den verschweige sie. Arendt: Das Nichtmitgeteilte wiederhole sich, "weil es, obwohl wirklich geschehen, in der Wirklichkeit keine Bleibe gefunden hat; die Wirklichkeit bleibt so, als sei dies nie geschehen."

Die Kränkung, in einer Gesellschaft zu leben, die einen zwingt, sich permanent zu legitimieren

Die Gegenfigur zu dieser in die Vereinzelung und aus der Wirklichkeit fliehenden Bewegung verkörpert übrigens ausgerechnet Karl August Varnhagen. Über ihn schreibt Arendt, er sei zur Einsicht fähig gewesen und Einsicht sei "die Vernunft, die sich (auf) andere einlässt und dennoch ihre Autonomie als Humanität behält". Gershom Scholem schrieb 1959 an Arendt, als die Biographie erschienen war, das Eichmann-Buch aber noch nicht, es sei schade, dass "Ihr großartiges Buch, in dem es doch einmal wirklich um etwas geht, was uns deutsche Juden in unseren düstersten Aspekten betrifft, nicht zur rechten Zeit, nämlich vor zwanzig Jahren erschienen ist". Das wäre 1939 gewesen.

Hannah Arendt arbeitet am Beispiel Rahel Varnhagens heraus, was es bedeutet "durch eine feindliche Gesellschaft zu gehen", wie Barbara Hahn es in einem Interview formuliert hat. Die Kränkung, in einer Gesellschaft zu leben, die einen zwingt, sich permanent zu legitimieren. Das ist ebenso ein aktuelles Thema wie die Kontinuität eines deutschen Antisemitismus.

Brisant wird Hannah Arendts Sicht auf Rahel Varnhagen, wie sie in dieser Edition präsentiert wird, aber durch die Gedanken, die in ihre Rede zur Verleihung des Lessing-Preises 1959 münden. Sie spricht da über die Frage, unter welchen Bedingungen, die Freundschaft zwischen einem Deutschen und einem Juden im Dritten Reich ein Zeichen von Menschlichkeit gewesen wäre. Nämlich nicht, wenn sie gesagt hätten: "Sind wir nicht beide Menschen?" Unter den Bedingungen der Verfolgung hätte dieser Satz die Wirklichkeit geleugnet. Ein Zeichen von Menschlichkeit und Einsicht in die ihnen gemeinsame Welt wäre der Satz gewesen: "ein Deutscher und ein Jude, und Freunde."

1939 schreibt Arendt an Scholem, sie habe "einen Bankrott beschreiben wollen, allerdings einen geschichtlich notwendigen und vielleicht auch heilsamen". Das ist das Erbe, das Rahel Varnhagen in Hannah Arendts Auge hinterlässt: Die Geschichte eines Bankrotts und ein "rebellisches Herz". Wurde es angenommen, dieses Erbe? Diese Frage stellt Barbara Hahns Kritische Ausgabe.

Und was hilft das nun für das Gespräch vom 18. Februar 2021? Nun, man kann die Frage von Heinrich Horwitz wiederholen: "Warum fällt es Ihnen so schwer, solidarisch zu sein mit Menschen, die es brauchen?" Es ist eine relevante Frage. Jede Gesellschaft sollte sie sich neu stellen und ernsthaft beantworten können. Die Gegner sind nicht woanders, solange über diese Frage nicht nachgedacht wird und über einen Gleichheitsbegriff, der die eigene Erfahrung absolut setzt und die von Anderen leugnet und ausschließt.

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