Amerikanische Literatur:Wenn die Person zur Personality wird

Amerikanische Literatur:  Hank Green: Ein wirklich erstaunliches Ding. Roman. Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt. dtv, München 2019. 448 Seiten, 22 Euro.

Hank Green: Ein wirklich erstaunliches Ding. Roman. Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt. dtv, München 2019. 448 Seiten, 22 Euro.

Der erste Roman des Youtube-Stars Hank Green erzählt von den Schattenseiten des Ruhms. Dabei imitiert er authentisch die Jugendsprache im Netz.

Von Karin Janker

Was macht das Internet aus dem Menschen? Dieser Frage, einer der brisantesten unserer Zeit, nachzugehen, scheint der Literatur schwerzufallen. Sieht sie sich doch - nachvollziehbarer- und mitunter berechtigterweise - häufig als Antagonistin der neuen Medien. Nicht zufällig spielt das Internet in zeitgenössischen Romanen vor allem dann eine Rolle, wenn diese Dystopien erzählen. Der alte Wettstreit der Künste und der Medien bricht wieder auf. Aber ist das mehr als ein Reflex? Verlieren mit der Digitalisierung Bücher tatsächlich ihre Anziehungskraft?

In Deutschland hat der Vlogger Hank Green an die 100 000 treue Fans

Immerhin droht das Internet den Verlagen eine ganze Generation von Lesern abspenstig zu machen. Die 20- bis 30-Jährigen, die mit dem Internet sozialisiert wurden und von den Älteren Digital Natives genannt werden, sind für Buchverlage eine schwierige Kundschaft. Es wird höchste Zeit, dass man sich um sie bemüht. Der dtv-Verlag versucht das nun mit einer eigenen Reihe: "Bold" lautet deren Titel, zu Deutsch: kühn, frech, verwegen, zugleich auch typografische Bezeichnung für Fettgedrucktes. Zwar ist das mehr Selbstvergewisserung als Programmatik - eine publizistisch richtige Entscheidung ist es dennoch, sich zu öffnen. Zum Start der Reihe erscheint ein Buch, das symptomatisch dafür steht, dass und wie junge Leute fürs Lesen wiederzugewinnen sind: Der Roman "Ein wirklich erstaunliches Ding" von Hank Green ist ein Debüt - aber nicht von irgendwem, sondern von einem Internet-Unternehmer, dem Millionen 20- bis 30-Jährige auf Youtube zuhören.

Hank ist der Bruder von John Green, dem Autor von Jugendbuchbestsellern wie "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" und "Margos Spuren". Zusammen sind die beiden die "Vlogbrothers", Autoren und Protagonisten der gleichnamigen Youtube-Serie. Die Greens haben ihr Spektrum in den vergangenen Jahren ständig erweitert, bieten inzwischen auch naturwissenschaftliche und historische Erklärvideos oder politische Diskussionen. Sie haben eine Art hippes Telekolleg im Netz aufgebaut, die Zielgruppe ist jung. Acht Millionen Abonnenten folgen Hank Green auf den diversen Kanälen, in Deutschland hat er an die 100 000 treue Fans. John und er sind eine Marke im Netz.

Für ihre Botschaften haben sie eigentlich genug Verbreitungsmöglichkeiten, möchte man meinen: Webseiten, Foren, Videos, Podcasts - alles das, was Verlage seit einigen Jahren neben dem bedruckten Papier aufbieten, um junge Leute zu erreichen, bespielen sie bereits perfekt; haben die Formen zum Teil mitgeprägt. Ein Buch zu schreiben, erscheint wenig naheliegend für einen Medienunternehmer, der im Internet gutes Geld verdient, einen Emmy gewonnen hat, und zu einem Interview mit Barack Obama ins Weiße Haus geladen war. Dennoch zog es Hank Green zum bedruckten Papier.

Und die im Vergleich geradezu antiquiert wirkende Form der linearen Erzählung ist für ihn offenbar nicht bloß Spielerei: "Es gab ein paar Dinge, die ich nicht anders ausdrücken konnte als in der Fiktion", sagte er dem Guardian. "Und außerdem: Jeder will ein Buch schreiben, oder nicht? Ist das nicht die coolste Sache der Welt?"

Bücherschreiben, die coolste Sache der Welt? Da traut einer der Vorreiter des neuen Infotainments und Storytellings dem alten Medium mehr zu als dem Netz. Man wünscht sich diese Kühnheit auch bei Verlagen, die um junge Leser werben. Natürlich gibt es Dinge, die sich in einem Roman besser verhandeln lassen als in einem Web-Video. Die Frage, was das Internet aus dem Menschen macht, zum Beispiel; denn der Medienwechsel hilft bei der Reflexion.

In den Videos der Vlogbrothers inszenierte sich Hank lange als naturwissenschaftlicher Geek, der Gegenpart zum musisch begabten Jugendbuchautor John. Einmal gab er sogar zu, die Bücher im Englischunterricht nie zu Ende gelesen zu haben; weil er zu langsam vorankam, las er am Ende einfach immer nur die Zusammenfassungen. Er habe eine leichte Form der Leseschwäche gehabt, erzählte er. Im Studium belegte er Biochemie.

Doch das ist nur die halbe Geschichte: Das erste Vlogbrothers-Video, das viral ging, war ein Fansong auf "Harry Potter". Bücher spielten immer wieder eine Rolle in Greens Karriere; seinen Emmy bekam er für eine Web-Serien-Adaption von Jane Austens "Stolz und Vorurteil". Sein Erfolg zeigt, wie fehlgeleitet die Pauschaldiagnose ist, dass das Internet dem Buch quasi zwangsläufig den Rang abläuft.

Green imitiert die Jugendsprache im Netz authentisch und ohne Metaebene

Sein Romandebüt "Ein wirklich erstaunliches Ding" erkundet nun die Verlockungen und Abgründe sozialer Medien wie kaum ein Buch zuvor. Nicht, weil es sprachlich besonders subtil vorgeht - Green imitiert die Jugendsprache im Netz authentisch, trotzt ihr aber keine Metaebene ab -, sondern schlicht deswegen, weil die zeitgenössische Literatur hier ein großes Defizit hat. Es ist nicht wahnsinnig schwer, ein interessantes Buch übers Internet zu schreiben, wo es so wenige Bücher übers Internet gibt. Hauptfigur der Erzählung ist die 23-jährige Grafikdesignerin April May, die quasi über Nacht durch ein Video, das sie ins Netz stellt, zu einer Internetberühmtheit wird. So berühmt, dass sie in Talkshows eingeladen wird, ein Buch schreiben soll und sogar von der US-Präsidentin zum Gespräch gebeten wird.

April May ist, das ist unschwer zu erkennen, stark autobiografisch geprägt. Und dennoch handelt es sich bei dem Roman nicht um Autofiktion. Zu groß ist die Leidenschaft des Autors für Science Fiction, als dass er sich hätte entgehen lassen, für sein Debüt bei diesem Genre Anleihen zu machen: Das Video, das April online stellt und das die Handlung in Gang setzt, zeigt eine riesige, aus offenbar extraterrestrischem Material geformte Statue, die ein bisschen wie ein schwarzer Power-Ranger aussieht. Dieser Erscheinung gibt April den Namen "Carl". Als auch an anderen Orten der Erde solche Carls auftauchen, ist April plötzlich Expertin für die außerirdische Lebensform, die dahinter vermutet wird.

Das eigentlich Spannende an "Ein wirklich erstaunliches Ding" sind die Beobachtungen, die der Roman zu Viralität, sozialen Medien und Popularität macht. Green zeichnet nach, welche Dynamik Aprils Präsenz in den sozialen Medien, auf Twitter und Facebook, entwickelt. Hier hören ihr plötzlich Millionen Menschen zu. Und nicht alle sind ihr wohlgesonnen. Der Roman entwickelt die großen Fragen nach Authentizität und Identität - Fragen, denen sich Literatur schon immer gestellt hat. Dass sie hier ein Autor in die Gegenwart transponiert, macht Greens Buch auch über die Zielgruppe der 20- bis 30-Jährigen hinaus lesenswert.

Am Ende hat das scheinbar anachronistische Medium Buch über das vermeintlich avantgardistische Medium Internet eben doch einiges zu sagen. Zwischen den Zeilen und ganz ohne dystopische Übertreibung gibt "Ein wirklich erstaunliches Ding" eine Antwort auf die Frage, was das Internet aus dem Menschen macht: Wenn die Person zur Personality wird, verliert der Mensch sein menschliches Antlitz. Am Ende macht das Internet den Menschen zum Carl.

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