Manches Kind hat sich schon geärgert über die Anweisung, das Schreibheft schräg zu legen, damit die Schrift sich nach rechts neige. "Das Heft muss stets parallel zur Tischkante liegen, keinesfalls schräg!" liest der Erwachsene dann später in den Schriften des Typographen Jan Tschicholds, denn es liegt im Ermessen des Schreibers, welche Neigung er seiner Schrift geben möchte, und diese wird durch den Stift erzeugt, nicht durch Schräglage des Papiers.
Sobald ein erwachsener Mensch sich ernsthaft seiner Handschrift zuwendet, mithin auch einem sehr langsam alternden Kulturgut, wenn er dazu Konstruktionsbilder von Buchstaben betrachtet oder kalligrafische Übungen vollführt, wird er sich einiger Merkwürdigkeiten seiner Grundschulbildung bewusst.
Der Typograf Florian Hardwig hatte als Kind zwei Heftseiten von großen O schreiben müssen, weil er die Schleifen oder Häkchen rechts oben am O unterschlagen hatte, ohne welche man, so seine Lehrerin, den Buchstaben als Ziffer 0 lesen würde. Kurz darauf schrieb eine andere Lehrerin Nullen mit eben diesen Kringeln an die Tafel, und der Schüler fühlte sich betrogen.
Trotz unsinniger Unterweisungen hat Florian Hardwig eine Zuneigung zur Schrift entwickelt. Am heutigen Tage verleiht der Verein zur Förderung von Grafik und Druckkunst Leipzig e.V. den Walter-Tiemann-Preis an den 27-jährigen Berliner Designer für eine aufwendige Arbeit, die sich mit den aus der schulischen Unterweisung entstehenden "Dialekten" von Handschriften befasst.
Schulverlage definieren eigene Schriften
Der Impuls zu dieser Untersuchung wurde von der Post gesetzt, die einen Brief aus den Niederlanden nicht an Hardwig zustellte, weil sie eine 8 in der Postleitzahl als 0 gelesen hatte. Das war aber keine Folge einer nachlässigen Schreibweise, erklärt Hardwig, sondern eine des Konstruktionsunterschiedes: Schreibt man wie die Deutschen die 8 in einem Zug, beginnend rechts oben gegen den Uhrzeigersinn, ergeben sich selbst bei ärgsten Verschleifungen stets andere Figuren, als wenn die 8 von links in der Mitte nach links unten gegen den Uhrzeigersinn gezogen wird, so wie es die Niederländer gewöhnt sind.
Zwar sieht das Kind schon Schrift, bevor es in die Schule kommt, weil die Welt voller Buchstaben ist, aber den Schulbuchverlagen wird "die Gestaltungsmacht über die Form der Erstschrift überlassen", so Hardwig, und diese greifen nicht auf die Vorbildung der Schüler zurück, sondern definieren eigene Schriften. So lassen sich selbst in der abgeschliffensten Handschrift Rudimente der Schulschreibschrift finden, was beispielsweise den graphonomischen Experten der Kriminaltechnik nützt, die sich nicht nur mit Papier und Tinte befassen, sondern auch Handschriften örtlich und zeitlich zuordnen.
Florian Hardwig bekam für seine Forschungsarbeit Zugang zur Datenbank des European Network of Forensic Handwriting Experts, die vor allem aus Sammlungen des Niederländischen Forensischen Instituts und des Bundeskriminalamtes gespeist wird. Um die Merkmale von Dialekten zu finden, genügte allerdings nicht allein die Anschauung, Hardwig musste die Schriften schreiben, um die Beweggründe für absonderliche Schnörkel zu verstehen und die Konstruktionsmerkmale und ihre Verschleifungen zu erkennen.
Aus den über 500 Schulschriftmustern aus 40 Ländern hat Florian Hardwig eine Auswahl getroffen; seine Arbeit sollte schließlich der Erlangung eines Diploms der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig dienen, nicht der Promotion. Beispiele aus dreizehn Ländern präsentiert er nun in drei bibliophil gemachten Bänden, in denen er mit Kreide auf tafelgleichen Flächen Buchstaben geschrieben hat, wie sie typisch für bestimmte "Dialekte" sind.
Was nun den Betrachter am meisten an dieser Blütenlese seltsamer Gewächse erstaunt, ist ihre Abgrenzung gegen Erkenntnisse aus Kalligraphie und Typographie, die durch absonderliche pädagogische Anschauungen zustande kommen, vor allem jene, in einer geschriebenen Schrift müssten alle Buchstaben ohne Absetzen miteinander verbunden werden.
Ein gequälter Wurm
Florian Hardwig zeigt, wie stark die dabei entstehenden Konstruktionen sich von den Wurzeln unserer Schrift entfernen, zumal wenn Deckstriche verhindert werden sollen, also das zweimalige Fahren einer Linie mit dem Schreibgerät.
Wir finden in seiner Sammlung ein amerikanisches Versal S, das mit einem Anstrich von links unten nach rechts oben zum oberen Ende des Buchstabens führt und dabei eine Schleife bildet und dann eine weitere Schleife, um vom linken unteren Ende des Buchstabens durch denselben hindurch nach rechts zu führen, damit der folgende Buchstabe in einem Zug fortgeschrieben werden kann. Hardwig nennt dieses Gebilde "ein Linienknäuel mit vier Kreuzungspunkten". Arme Kinder! Ein Buchstabe ist das nicht mehr. Ein Schicksal, das ebenso die deutsche Minuskel s der sogenannten "Vereinfachten Ausgangsschrift" getroffen hat - ein gequälter Wurm, kein lesbares Zeichen.
Hinsichtlich der Minuskel e, wie sie hierzulande unterrichtet wird, zitiert Hardwig eine Befragung bayerischer Lehrkräfte, von denen knapp 90 Prozent ein e kritisierten, das zwar von unten angeschrieben werden soll, dessen Querstrich aber zur Erhöhung der Lesbarkeit quer zu verlaufen hat. Das Beschränkte dieser Begründung frappiert jeden Schriftkundigen, der die Meisterschriften aus berühmten Sammlungen kennt und dort weder eine durchgängig geschriebene Schrift gesehen hat noch eine Kursive mit einem waagerechten Strich im e.
Praktisch ist es kaum möglich, ein e mit dem vorhergehenden Buchstaben von unten ausgehend zu verbinden und im selben Zug zu einer Waagerechten zu gelangen, Hardwig nennt das Ansinnen "Schikane". Lehrer und Schüler können sich an solchen Ausgangsschriften nur die Zähne ausbeißen; dass Franzosen und Italiener denselben Unsinn betreiben, dürfte kaum trösten.
Möglicherweise hätte Walter Tiemann, dessen Name der mit 5000 Euro dotierte Preis trägt, eine grimmige Freude an dieser Vorführung. Tiemann war einer derjenigen, welche das Buch aus der kurzen Phase des Jugendstils herausführten zu einem funktional schönen Gebilde. Der Maler, Graphiker, Schriftentwerfer und Buchgestalter hatte 1907 mit dem Drucker Carl Ernst Poeschel die berühmte Januspresse gegründet, mit seiner Tiemann-Fraktur das Erscheinungsbild des Insel-Verlages geprägt; seine Druckschriften wurden von der Gießerei Klingspor in Offenbach herausgegeben.
Der Literaturwissenschaftler Georg Witkowski beschrieb in seinen Erinnerungen Tiemann als hochgebildeten, vornehmen und duldsamen Künstler mit "stets schlagbereitem Witz", der endlose Heiterkeit erregen konnte und seine jugendliche Frische bis ins Alter bewahrte. Von 1920 bis 1941 diente Tiemann der Leipziger Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe als Direktor und führte sie zu weltweitem Ruhm.