Die goldene Ära des Zeitreisens ist angebrochen." Auch auf die Gefahr hin, dass es denkfaul klingen könnte: Manchmal muss man den ersten Satz des Buches, das zur Analyse auf der Rezensentinnencouch liegt, in voller Länge an den eigenen Anfang setzen. Wenn so ein Erst-Satz wie eine selbsterfüllende Prophezeiung wirkt, muss seine magische Macht möglichst hartnäckig hinterfragt werden.
Gern wüsste man zum Beispiel, wann genau Kathrin Passig und Aleks Scholz ihr "Handbuch für Zeitreisende" - Untertitel: "Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer" - verfasst haben: vor, während oder nach der Pandemie? War ihnen bewusst, dass die neuartige Reiseform in diesem Sommer des Daheimbleibens auf die größte Resonanz stoßen könnte? Kommen sie aus der Zukunft, um die träge Gegenwart auf Trab zu bringen? Geht es um Geld? Um Aufklärung? Um Vergangenheitsbewältigung? Um Geschichtsphilosophie? Um Ersatzbefriedigung? Um Denksport?
Fest steht, dass dieser Zeitreiseführer, der sich auf die Vergangenheit konzentriert, mit einem ernst zu nehmenden Gedankenexperiment und seiner Geschichte beginnt. Die Idee der Zeitreise führt zur theoretischen Physik, genauer zu Albert Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, deren vierdimensionale Raumzeit die Vorstellung von Schleifen, Tunnel oder "Wurmlöchern" möglich macht, also Abkürzungen zwischen zwei entlegenen Zeitwelten.
Mit der Idee der Parallelwelten entstehen verschiedene Versionen des Ichs und der Geschichte
Dazu kommt die Quantenmechanik: Von Schrödingers Katze bis zur sogenannten Vielwelten-Interpretation experimentieren Physiker mit der Vorstellung multipler Universen. Dadurch werden Parallelwelten denkbar, in denen Zeitreisende unterwegs sein können, ohne dass es zu unüberwindlichen logischen Hindernissen kommt. Wer in die Vergangenheit reist und dort die eigene Großmutter umbringt (das ethisch höchst korrekte Handbuch rät ab), dürfte mangels Mutter eigentlich gar nicht existieren; doch mit der Idee der Parallelwelten entstehen viele verschiedene Versionen des Ichs und der Geschichte.
Zeitreisen, heißt es - hier beamt das Handbuch seine Leserinnen und Leser auf eine etwas hemdsärmelige Weise in die Zukunft -, werden dadurch so selbstverständlich wie das heliozentrische Weltbild.
Naheliegend, dass dieser riesige neue Markt nach Tipps und Orientierung schreit. Im elegant persiflierten Alternativreiseführerton präsentieren Passig und Scholz mögliche Ziele jenseits der ausgetretenen Pfade. "Möchten Sie einmal vom Schnauben der Auerochsen geweckt werden? Mit Emmy Noether mathematische Rätsel diskutieren? Kakao trinken mit Kukulkan? Der Entstehung des Mittelmeers beiwohnen?"
Die Bachmannpreisträgerin Passig und der Astronom Scholz haben bereits vor elf Jahren das "Lexikon des Unwissens" zusammen veröffentlicht und sind dementsprechend versiert darin, eine goldene Ära genau dort zu entdecken, wo andere bloß im Schlamm stochern. In dreizehn Kapiteln unterbreiten sie Reisevorschläge, die vom Kurzausflug in die DDR über das Padua des noch nicht ganz so bekannten Galileo Galilei, die Inka- und Aztekenreiche oder die Entstehung von Stonehenge bis zurück ins eiszeitliche Pleistozän und schließlich zum Urknall führen. Aufschlussreich sind die Ausführungen zum mittelalterlichen Island der Althing-Zeit, der parlamentarischen Versammlungen, die das Handbuch als gut besuchbare Open-Air-Festivals vorstellt und mit folgender Reisewarnung garniert: "Frühzeitiges Erscheinen - also vor der Reformationszeit - lohnt sich, denn danach ist das Tanzen verboten. Wer lustige Kreistänze sucht, ist ab diesem Zeitpunkt auf den Färöern glücklicher."
Beim Besuch der Dinosaurier in der Kreidezeit empfiehlt das Handbuch, darauf zu achten, wie die künftigen Vögel fliegen lernen - von unten nach oben oder von oben nach unten? Die arboreale und die saltatorische Theorie stehen einander gegenüber, lernt man, wobei die erste das Herunterspringen von Bäumen und die zweite das Nach-oben-Hüpfen vom Boden aus bezeichnet.
Wer sich als citizen scientist nützlich machen möchte, erhält sachdienliche Hinweise quer durch die Erdzeitalter: Gewissermaßen im Vorbeireisen weckt das Handbuch Interesse für eher entlegene Wissensgebiete. Entscheidend ist dabei die Tonlage, die dieses Altneuland erschließt, denn das zurückgelehnt ironische Passig-Scholz-Register kennt weder Schicksalstremolo noch Einfühlungskurzschlüsse.
Trotzdem, oder gerade deshalb, geht es darum, wie man Vergangenes verstehen kann - ohne dem Authentizitätsterror der letzten Jahrzehnte zum Opfer zu fallen. Kann man die Musik Bachs oder Beethovens genau so hören, wie sie bei ihren Uraufführungen wahrgenommen wurde? Und ganz konkret: "Muss man bei Kerzenlicht auf harten Stühlen sitzen, sich einparfümieren, staubige Perücken tragen?"
"Halten Sie sich nicht für eine Gottheit. Benehmen Sie sich nicht wie ein Vollidiot."
Hinter der pragmatischen Handbuchfassade kommen höchst philosophische Grundprobleme zum Vorschein, angefangen bei der Frage, warum Menschen aus der Geschichte offenbar nichts lernen. "Geschichte ist viel mehr vom Zufall geprägt, als wir uns wünschen. Sie ist ein hässliches Durcheinander, ohne Plan, ohne Konsistenz und ohne Ziel."
Auch die dadurch entstehende Schwierigkeit - rückwirkende Weltverbesserung - begutachten Passig und Scholz eher skeptisch, denn Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen soll gerade nicht der Zweck dieser Zeitreisen sein. Ihr Tiefer-hängen-Modus misstraut missionarischem Eifer und setzt auf kleine Gesten.
Was manchmal abgebrüht oder kaltschnäuzig wirken könnte, erweist sich als Arroganzvermeidungsstrategie, denn mit "Hallo, ich komme aus der Zukunft" lässt sich nicht allzu viel ausrichten.
Der Sicherheitshinweis, der dazu dient, bei den Maya nicht zum Menschenopfer zu werden, kann deshalb auch für die Gegenwart gelten: "Halten Sie sich nicht für eine Gottheit. Benehmen Sie sich nicht wie ein Vollidiot."
Dieses "Handbuch für Zeitreisende" hat sich seinen Self-ful filling-prophecy-Status redlich verdient. Vielleicht kommt es wirklich aus der Zukunft.