Süddeutsche Zeitung

Ernst Wilhelm Nay in Hamburg:Immer recht fröhlich

Die Hamburger Kunsthalle feiert den deutschen Expressionisten Ernst Wilhelm Nay - dabei kann man die Gräuel der Geschichte in seiner Kunst vor lauter Schmetterlingen kaum erahnen.

Von Till Briegleb

Ein Wandtext in der Hamburger Kunsthalle erklärt Folgendes über die Nachkriegskunst: "Um die Mitte des 20. Jahrhunderts stand die Menschheit vor einem Scherbenhaufen. Holocaust und Zweiter Weltkrieg hatten offenbart, zu welchen Gräueltaten der Mensch fähig war." Und im Weiteren: "Künstlerinnen und Künstler gestalteten vor dem Hintergrund eigener Kriegserfahrungen nun eindrucksvolle, neuartige Werke." Diese Erklärung über die Transformation von Traumata in Kunst ist allerdings nicht in der großen Retrospektive von Ernst Wilhelm Nay zu lesen, die gerade in der Galerie der Gegenwart gezeigt wird, sondern bei der kleinen Schau "Von Mischwesen" über Nachkriegsskulpturen im Altbau. Bei Nay hätte diese selbstverständlich klingende Einordnung von Kunst als therapeutischem Akt nur störende Fragen provoziert.

Denn wo finden sich in dieser prallen Schau mit rund 120 Werken eines Malers, der nach dem Krieg ein bedeutendes Aushängeschild für das geläuterte Kunstverständnis des demokratischen Deutschlands wurde, Spuren des Grauens? Was von Nays abstrahierter Figürlichkeit in herrlichen Frühlingsfarben deutet darauf hin, dass er als deutscher Maler die Judenverfolgung und Hitlers Angriffskriege erlebt und als Soldat in Frankreich auch mitgemacht hat? Wo sind in den schönen Gemälden mit ihren tanzenden Kompositionen aus Zacken, Augen, Scheiben und Schmetterlingen Erinnerungen eingeschrieben, zu welchen Gräueltaten der Mensch fähig ist?

Die Biografie des 1902 in Berlin geborenen Malers, der nach Kriegsende auf den ersten drei Documentas und diversen Biennalen vertreten war und bis in die Sechzigerjahre zu den Stars der künstlerischen Wiedererweckung Deutschlands zählte, wirft ähnliche Fragen auf, wie sie durch neue Forschungen in den letzten Jahren zu diversen Künstlern des Expressionismus gestellt wurden, die nach Hitlers Machtergreifung dem Dritten Reich verbunden blieben. Zwar war Nay offensichtlich kein glühender Nazi wie Emil Nolde, aber definitiv ein anpassungswilliger Kunstgläubiger wie die Brücke-Künstler Max Pechstein, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff.

Wie sie hoffte Nay anfänglich noch, dass seine moderne Kunstüberzeugung von den Nazis zum germanischen Nationalstil erhoben werde. Und wie einige der Brücke-Künstler auch distanzierte Nay sich vehement davon, "einen Tropfen jüdisches Blut" in den Adern zu haben, malte als Auftragsarbeiten Propagandawerke, etwa Porträts von Adolf Hitler, und suchte die Nähe zu Nazi-Prominenz, um sich vom Vorwurf zu befreien, "entartet" zu malen. Anregung und Hilfe fand er bei dem NS-Juristen Carl Schmitt, dem schreibenden Mittäter Ernst Jünger oder den Kunsthistorikern mit Parteibuch Fritz Baumgart und Werner Haftmann, wovon letzterer nach dem Krieg als Documenta-Kurator und Monograf (unter anderem von Nay) maßgeblich an der Mystifizierung der zu Hause gebliebenen Expressionisten als Widerstandskämpfer im inneren Exil strickte.

Ein Soldat des Pinsels im Blumenbeet, der nicht über den Gartenzaun sehen möchte

Diese und viele andere Details zu Nays Akzeptanz des Hitlerstaates und zu seinen Versuchen, im Dritten Reich als "unpolitischer" Künstler (der nie ein Berufsverbot erhielt) Akzeptanz zu finden, lassen sich in dem umfangreichen Katalog nachlesen. In der Ausstellung selbst begnügt sich Kuratorin Karin Schick mit Andeutungen zur mörderischen Zeitleiste hinter Nays persönlicher Ausdruckssuche. Allerdings irritiert das ausgestellte Werk - das rund 45 Jahre umfasst von einem Selbstporträt mit zwanzig bis zu Nachahmungen von Matisse' Scherenschnitten in Öl aus Nays Todesjahr 1968 - auch ohne geschichtliche Fakten durch gartenschauhafte Unbekümmertheit.

"Absolute Form und reine Lebenskraft sind der Sinn meiner Malerei", sagte Nay 1946 in einer noch leicht totalitär gefärbten Sprechweise, und malte in Hofheim am Taunus, in dem ehemaligen Atelier von Ottilie Wilhelmine Roederstein, das die Expressionismus-Mäzenin Hanna Bekker vom Rath dem zurückgekehrten Soldaten zur Verfügung gestellt hatte, relativ bruchlos weiter an seiner bunten Welt aus Natur- und Mystikmotiven. Zwischen der lyrischen "Mondnacht mit Liebespaar unter Bäumen", die Nay 1942 an der Front malte, und "Frau mit Schmetterling" ein Jahr nach Kriegsende liegt stilistisch keine Zäsur, kein Innehalten. Sein ganzes künstlerisches Leben verharrt Nay bei seinen weltabgewandten Formeln dynamisch komponierter Farben, ein Soldat des Pinsels im Blumenbeet, der nicht über den Gartenzaun sehen möchte. Und schon gar nicht zurück.

Ohne Kontext betrachtet ist vieles von dem, was den typischen Naystil ausmacht, ästhetisch ansprechend, wenn auch durchgängig recht eklektizistisch. Seine stark in der Vorkriegszeit verwurzelte Stilentwicklung zitiert im eigenen Werk deutlich wahrnehmbar die Brücke-Maler, dann den Kubismus, Picasso, auch Klee und Kandinsky, schlussendlich Matisse. Zu "inhaltliche" Kunstrichtungen jener Zeit, wie Surrealismus und Dadaismus, blieben Nay dagegen vollkommen fremd. Aber aus seiner Ehrfurcht für die formalen Avantgarden entwickelt der später in Köln lebende Maler eine wiedererkennbare eigene Handschrift, die sich nicht nur auf die typischen "Augen" begrenzt, die den Betrachter durch alle Jahrzehnte aus Nays Bildern observieren.

Größtenteils harmlos - aber dadurch noch lange nicht bedeutend

Nay komponiert aus der gegenseitigen Befruchtung von harmlos Figürlichem und energisch Abstraktem seine eigene Methodik der Bilderzählung. Er löst Landschaften, Frauengestalten oder Dramen der griechischen Götterwelt in vielfarbige geometrische Elemente auf und variierte bestimmte Motive immer wieder. Das ergibt bewegende Bilder von stets heiterer Stimmung, die sich in ihrem komplexen Aufbau und den vielschichtigen Elementen im einmaligen Hinsehen nicht erschöpfen.

Dennoch fand die leicht zugängliche und kommerziell sehr erfolgreiche Stilsicherheit von Ernst Wilhelm Nay schon zu seinen Lebzeiten nicht nur Zustimmung. Zu perfekt passte die anstrengungslose Betrachtung seiner gestischen Spielwiesen in die alles Böse verdrängende Wirtschaftswundereuphorie mit ihren Nierentischen, Fernwehtapeten, dem Goggomobil und den netten Schlagerfilmen. Während die zeitgenössische französische Kritik ihn gleich wegen seiner retrospektiven Anleihen bei den eigenen Nationalhelden der Kunst etwas herablassend beurteilte, verlor sich das Interesse in Deutschland in den Sechzigern. Spätestens mit Nays dritter Documenta-Beteiligung 1964, als konzeptuelles Arbeiten auf dem Vormarsch war, wurde sein Vorkriegsverständnis von expressiver Kunst als "Dekorationsmalerei" geschmäht.

Die Geschichte seines Künstlerlebens, die in dieser chronologisch gehängten Retrospektive erzählt wird, bleibt also den Beweis eher schuldig, dass es sich wie behauptet bei Ernst Wilhelm Nay um einen "der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts" handele. Die Fehlstelle einer kritischen Reflexion zum Zeitgeschehen, wie sie sein großes Vorbild Picasso immer geleistet hat, führt bei Nay vielmehr zu der verängstigten Ablehnung des Politischen, die sich in seiner Kunst in gewollt wirkender Fröhlichkeit ausdrückt. Und das erscheint heute, wo wieder ein brutaler Krieg in Europa tobt, der zeigt, zu welchen Gräueln der Mensch fähig ist, wie die etwas charakterlose Ausweichhaltung eines Atelierkünstlers, der gerne Schmetterlinge malt.

Ernst Wilhelm Nay. Hamburger Kunsthalle. Bis 7. August. Der Katalog kostet 34 Euro.

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