Hamburg:Planet der Flauschies

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Jedes Wesen so akzeptieren, wie es ist und singt: Das Puppenmusical „Space“ der kanadischen Künstlergruppe Socalled. (Foto: Jonas Nellissen)

Bärige Umarmungen und Folklore aus Georgien: Das dreiwöchige Sommerfestival in der Kulturfabrik Kampnagel hat begonnen.

Von Till Briegleb

Dieser Abend hat die merkwürdige Anmutung einer Hochzeit zu Zeiten der spanischen Inquisition. Ein düsteres Burgportal mit einer Treppe ins Ungewisse im Hintergrund, ein Reiterstandbild in mittelalterlicher Grobschlächtigkeit am Rande, im Zentrum ein Brauttisch, der mit weißen Blumengestecken eher dekoriert ist wie ein aufgebahrter Sarg. Und in dieser bedrückenden Stimmung verhalten sich auch die Brautleute zueinander. Steif, distanziert und ohne jeden Blickkontakt vermitteln sie so viel Zuneigung wie bei einer adeligen Zwangsheirat am Hof Philipps II.

Er, in einem hochgeschlossenen schwarzen Jackett, tanzt mit dem aufgesetzten Stolz eines Matadors alleine durch die Arena, wenn er nicht mit gesenktem Kopf hinter dem Ehebegräbnistisch hockt. Sie, im Silberkleid, zeigt die verletzte Arroganz einer der Freiheit Beraubten in schlängelnden Fluchtbewegungen. Und dazu tanzen streng gekleidete Gruppen streng nach Geschlechtern getrennter Hofleute strenge Volkstänze und Quadrillen unter der Aufsicht eines strengen Patriarchen. Diese Rekonstruktion einer in Konventionen erstarrten Standesgesellschaft, die man in den Jahrhunderten der Autodafés und Religionskriege ansiedeln würde, ist der Wirkung nach eine skurril rückwärtsgewandte Tanzarchäologie befreit von jedem Gegenwartsbezug.

Das ist die Wirkung. Der Absicht nach aber ist die Choreografie "Marry Me in Bassiani" des Künstlerkollektives (La) Horde aus Frankreich - eine "Weltpremiere", mit der das dreiwöchige Internationale Sommerfestival in Hamburg eröffnet wurde - etwas vollkommen anderes. Laut Projekterklärung gehe es um "Szenarien und Aktionen, die radikal zeitgenössische Themen und Fragen aufgreifen", um "Post-Internet-Tanz" (was immer das sein soll) und um die Beschreibung einer Protestbewegung georgischer Jugendlicher, die sich 2018 mit einer Musik- und Tanzdemonstration vor dem Parlament in Tiflis gegen die ständigen Razzien in den Techno-Clubs der Stadt gewehrt hätten - von denen der namensgebende "Bassiani", in einem ehemaligen Schwimmbad liegt.

Die Braut schraubt dem Königsreiter den Kopf ab, der Torso wird ins Dunkle gerollt. Ein georgisches Lied dazu - das soll der Protest sein

Selten klafften Ansicht und Vorhaben so weit auseinander wie bei dieser Uraufführung. "Radikal zeitgenössisch" war bei diesem Volkstanzseminar in religiöser Geschlechtertrennung das letzte, was einem einfiel zu einem kreiselnden und luftsprungreichen Abbild patriarchaler Clangesellschaften. 90 Minuten lang wurden Rollenbilder am Rande der Lächerlichkeit produziert, herrische Hahnenstolze und devot klatschende Dämchen, die in athletisch beeindruckender Manier eine emanzipationsfreie soziale Ordnung mit Gruppentänzen feierten, unterbrochen nur von langatmigen symbolischen Handlungen, die offensichtlich das Gegenteil behaupten wollten. Die Braut schraubte dem Königsreiter den Kopf ab, der Torso wurde in einer schier endlosen Szene durchs Dunkle gerollt und hinter der Treppe versenkt, schließlich schoben die Hofleute die Fassade nach vorne an den Bühnenrand und zu einem georgischen Lied zurück an die Wand. Das sollte der Protest sein.

Mehr Missverständnis geht kaum. Aus gutmeinender Suche nach jugendlichen Rebellionsformen in der weiten Ferne georgischer Kulturfremdheit wurde eine Adaption von Folklore inklusive ihrer antiquierten Sozialstrukturen. Wenn das Künstlerkollektiv im September die Leitung des Nationalballetts von Marseille übernimmt, wäre es sicherlich dienlich für das Verständnis, sie würden sich wieder produktiveren Gegensätzen zuwenden, die im Verlauf der Produktionsarbeit nicht so weit auseinanderklappen, dass man von der Intention nur noch im Programmzettel liest.

Der weitere Fortgang dieses traditionsreichen Festivals, das sich unter seinem Leiter András Siebold jedes Jahr mehr der Musik zu- und vom Theater abwendet, sorgte sich dann um die neuerliche Erheiterung des Publikums. Der kanadische Festival-Dauergast Socalled zeigte die dritte Folge seines abstrusen Puppenmusicals "Space" um die Liebe eines Bären zu einer außerirdischen roten Kuschelspezies. Mit großer Band und niedlichen Handpuppen sowie einer lila Königin und einem großen gelben Ei mit Luxusmarkenbanderole um den Bauch erzählt der freundliche Konzertmeister diesmal von der Moral der Umarmung. In einer Welt der Zwangsharmonie auf dem Planeten der Flauschies, wo nur anerkannt ist, wer im Chor singen kann, bringt der Bär mit dem Konzept der Umarmung die Freundschaft zurück, die jedes Wesen so akzeptiert, wie es ist und singt. Wie immer niedlich und herzenswarm, aber vielleicht in der dritten Staffel ein wenig seiner ursprünglichen anarchischen Erzählweise verlustig gegangen.

Schlager von damals sollen die schwierige Beziehung zwischen alten und neuen Bundesländern "heilen"

Auch die Umarmung von Ost- und Westdeutschland in musikalischer Harmonie gab der Eröffnung versöhnende Laute mit. Die Musiker Carsten "Erobique" Meyer und Paul Pötsch haben beim Tretbootfahren eine Kiste mit heißen Scheiben aus der DDR gefunden (so ihre Bühnenerzählung) und spielten nun ein großes Konzert mit cool arrangierten Schlagern von Nina Hagen, den Puhdys, Kati Kovács, dem Manfred Ludwig Septett, Manfred Krug oder Karat, moderiert von einem aufgedrehten Bernd Begemann, der erklärte, dass mit diesem Abend die schwierige Beziehung zwischen den alten und neuen Bundesländern "spirituell" geheilt werde. Dann sollten vielleicht schnell ein paar Konzerte in den Bundesländern mit Wahlkampf in Ostdeutschland folgen.

Den Abschluss des großen Einstiegs bildete eine russische Version der Harmonisierung von Gegensätzen. Das Kollektiv Vasya Run aus Moskau komponierte aus der Symbolik von Männergangs einen sonderbaren Spiritismus. Gekleidet wie Bandenmitglieder in weißen T-Shirts, kahlrasiert und mit Halstüchern vor dem Gesicht, um anonym zu bleiben, benehmen sich die sechs Darsteller mal wie Mönche, die rätselhafte Texte sprechen, mal wie Tänzer einer Choreografie der Handgesten, dann wie eine Hip-Hop-Band. Die Texte, die sie sprechen, und das metaphysische Gerüst stammen von dem armenischen Esoteriker Georges I. Gurdjieff, der auch Komponist und Choreograf war. Die unverständliche Zeremonie, die Vasya Run aus dieser Vorlage konstruiert haben, erzeugte eine rätselhafte Atmosphäre aus Okkultismus, Poesie, Aggression und Männerbündelei.

Die Versöhnung sehr gegensätzlicher Kulturen, die das verbindende Element der Festivaleröffnung bildete, setzt sich mit weiteren Produktionen und "Weltpremieren" in anderen Facetten bis Ende August fort. Die Choreografin Aszure Barton will in ihrem neuen Stück "Where There's Form" demonstrieren, wie man in der Zeit der Lüge und des Hasses mit Körper und Tanz ein besseres Zusammenleben stiftet. Rimini Protokoll untersuchen in "Uncanny Valley" das Tal zwischen Mensch und Maschine. Der Bühnenkünstler Kris Verdonk sucht die Aussöhnung mit der drohenden Umweltkatastrophe. Und die kanadische Musikerin Peaches erklärt die Seele von Sexspielzeug. Also eine Menge Gelegenheit für Umarmungen und Missverständnisse.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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