"Halt auf freier Strecke" im Kino:Der Weg zum Tod - so real, so nah

Krebs, inoperabel: Ein unwiderrufliches Todesurteil für jeden Patienten. Andreas Dresens neuer Film "Halt auf freier Strecke" stellt die Frage nach dem Wissen und Begreifen der eigenen Endlichkeit. Ein großer Film, der weder Sentimentalität noch Überwältigung benötigt.

Martina Knoben

Der Befund ist eindeutig, und er lässt keine Hoffnung: Hirntumor, inoperabel. Frank (Milan Peschel) hat noch ein paar Monate zu leben.

Themendienst Kino: Halt auf freier Strecke

Milan Peschel als Frank und Steffi Kühnert als Simone im Drama "Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen. Gleich zu Beginn kommt das Todesurteil: Acht Minuten lang dauert die Szene.

(Foto: dapd)

Wie inszeniert man das? Wie spielt man einen Mann, der sein Todesurteil empfängt? Frank und seine Frau Simone (Steffi Kühnert) sehen sich nicht an, als sie die Diagnose hören. Sie blicken stumm geradeaus, Simones Mundwinkel zucken. Franks Augen, ohnehin vergrößert hinter einer Brille, werden noch weiter und dunkler, er sucht einen Fixpunkt für seinen Blick. Der Arzt bekommt einen Anruf, Krankenhausroutine. Schon ist das Leben weitergegangen, über Frank und sein Todesurteil hinweg. Die Kamera aber bleibt bei dem Ehepaar, ohne Ausweg, ohne Ausflucht; es dauert lange, bis sie den Arzt in einem Gegenschuss in den Blick nimmt. Auch der sucht nach Worten, tastet zögernd den Raum ab, den seine Diagnose eröffnet hat.

Wie Andreas Dresen, der große Realist im deutschen Kino, diese erste, wuchtige, fast acht Minuten dauernde Sequenz inszeniert, erzählt viel über seine Haltung gegenüber dem Thema und seinen Glauben an die wahrheitsstiftende Kraft des Kollektivs. Der Arzt ist ein "echter" Chefarzt einer Klinik für Neurochirurgie, der wohl auch deshalb so glaubhaft wirkt, weil er ähnliche Szenen erlebt hat.

Dresen hat ihn und die Schauspieler erst beim Drehen zusammengebracht, er hat den Arzt reden und Steffi Kühnert und Milan Peschel reagieren lassen. Und aus der Improvisation, Dresens üblicher Methode, erwächst hier ganz große Schauspielkunst. Man meint förmlich sehen zu können, wie die Diagnose Frank und Simone erschlägt, wie sie in einen tiefen Brunnen gestoßen werden, dessen Grund mit jedem Wort immer noch mehr absinkt. Aus Patientenbefragungen weiß man, dass die Darstellung realistisch ist.

Semi-dokumentarisch hat man Dresens Stil gern genannt, weil seine Filme dem Leben so ähnlich sehen. Das ist auch bei "Halt auf freier Strecke" der Fall, der in Cannes mit dem Preis der Reihe "Un certain regard" ausgezeichnet wurde und ein großer Film über ein eigentlich ganz alltägliches Thema ist.

Wüten gegen den eigenen Körper

Es kommen derzeit viele Krebsdramen in die Kinos - "Halt auf freier Strecke" aber ist sicher der realistischste. In Hollywoodproduktionen ist ja eher das gepflegte Dahinschwinden üblich. Dresen aber, dessen Vater an einem Gehirntumor starb, zeigt auch den Rest: die Schmerzen, hilfloses oder zorniges Wüten gegen das Schicksal, die körperlichen und geistigen Ausfälle. Um so etwas spielen zu können, brauchen seine Schauspieler einen geschützten Raum, den Dresen unter anderem dadurch schafft, dass er vor und hinter der Kamera immer wieder mit denselben Leuten zusammenarbeitet.

Wissen, Verfall und Begreifen des sicheren Todes

So bewegend "Halt auf freier Strecke" auch ist, Sentimentalität oder Überwältigung liegen Dresen fern. Sein Blick aufs Sterben ist einer aus mittlerer Distanz (was auch die Kamera bezeugt), er ist mitfühlend und sachlich zugleich wie der Arzt am Anfang. In einer Gesellschaft mit immer mehr Alten, die mit dem Sterben aber gar nicht umgehen kann, ist die Aufklärung, die Dresen am Herzen liegt, nicht das schlechteste Anliegen.

Kinostarts - 'Halt auf freier Strecke'

Wie geht eine Familie mit dem Todesurteil für den Vater um? Wie die Zeit nutzen, wie Abschied nehmen?

(Foto: dpa)

Um die Annäherung nicht zu erschweren, aber auch keine Identifikation aufkommen zu lassen, hat Dresen mit Frank, dem DHL-Paketversender, und seiner Frau Simone, einer Straßenbahnfahrerin, Allerweltsmenschen erschaffen, die einem mit ihrer ganz gewöhnlichen Individualität eher mühsam - aber eben doch - ans Herz wachsen. Darum geht es Dresen.

In vielen Filmen, die vorgeblich vom Sterben erzählen, ist die Todesdrohung ja nur ein dramaturgischer Kniff, um die Figuren und ihre Geschichte zu überhöhen, sie auf eine letzte wilde Reise zu schicken oder in eine unerwartete Liebesgeschichte. In "Halt auf freier Strecke" entspricht die Dramaturgie der des Lebens: Am Anfang steht das Wissen um den sicheren Tod, es folgen der Verfall und das langsame Begreifen der Todestatsache.

"Sterben ist eine letzte Arbeit", hat Wolfgang Kohlhaase, der für Dresen das Drehbuch zu "Sommer vorm Balkon" geschrieben hat, in einem Kurzvorwort zum Presseheft von "Halt auf freier Strecke" geschrieben. Und so geht Dresen das Thema an, auch deshalb spielen Laiendarsteller - darunter eine Palliativärztin und zwei Psychotherapeutinnen - mit, sie sind schließlich Experten. Um zu erkennen, wie kunstvoll und konstruiert der Film dennoch ist, muss man sich nur zum Beispiel die Sequenz genau ansehen, in der Frank eine Entspannungs-CD anhört.

Wie er so gemütlich in eine Decke gewickelt auf dem Sofa liegt, erkennt man in ihm den Leichnam, der er bald sein wird - den Moment kostet Dresen aber nicht aus. Er schneidet abrupt auf Franks Tochter Lilli, die im Schwimmbad Turmspringen trainiert. Ihr junger, kraftvoller, schöner und vollkommen beherrschter Körper ist der äußerste Kontrast zum Körper des Vaters. Aber schon schneidet Dresen wieder auf den mittlerweile schlafenden Frank, an den sich dessen Sohn Mika gekuschelt hat, er ist ebenfalls eingeschlafen. Es ist ein rührendes Bild, noch ist Frank nicht tot.

Aus solchen Wechselbädern besteht der ganze Film. Gerade hat Frank, dessen Persönlichkeit vom Tumor buchstäblich gefressen wird, seine Frau aufs übelste beschimpft, da sortiert er am nächsten Tag schon Schrauben und Muttern als Liebesgabe für sie. Auch komisch ist das Sterben manchmal und auf jeden Fall grotesk - deshalb auch die iPhone-Bilder, die einen verzerrten Blick direkt in den Kopf von Frank Lange gewähren; selbst als dieser längst kein iPhone mehr bedienen kann.

Diskontinuität war immer schon Dresens Thema. Die bemerkenswerteste Leistung ist in diesem Film - neben der schauspielerischen - die Vermittlung eines ganz ungewöhnlichen Zeitgefühls, das durch die Todesdrohung entsteht. Mal wird die Zeit unerträglich gedehnt, dann wieder ist sie viel zu schnell vergangen. Die größte Diskontinuität entsteht, wenn das Leben nach dem eigenen Tod einfach weitergeht.

HALT AUF FREIER STRECKE, D 2011 - Regie: Andreas Dresen. Buch: A. Dresen, Cooky Ziesche. Kamera: Michael Hammon. Mit: Steffi Kühnert, Milan Peschel, Talisa Lilli Lemke, Mika Nilson Seidel. Pandora, 110 Minuten.

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