Halbzeit der Documenta 12:Dark Side of the Mohn

Wir fuhren zur Documenta und fanden die Pest an Bord: Die 12. Weltleistungsschau der Kunst gibt vor lauter bonohafter Betroffenheit der Kunst keine Chance. Mit Bildern, Videos und Experten-Quiz.

Bernd Graff und Christian Kortmann

"Wir gerieten in ein Mohnfeld, überall schrien Ziegelsteine herum: Baut uns mit in den Turm des Feuers für alles, was vor Göttern kniet." Gottfried Benn

Die ganz dicken Bretter: Islamismus, Migration, Umweltverschmutzung, Afrika sowieso (Weltwirtschaftssystem aka: Globalisierung), hohe Mieten, Sweatshops, Treibhauseffekt. Mehr Probleme kann man gar nicht haben, aber alle wollen verhandelt werden. Um all das unter ein gemeinsames Dach zu stellen, muss man schon eine ganz große Halle bauen, genauer gesagt: Sie muss 11.000 Quadratmeter groß sein. Man muss sie Aue-Pavillon nennen und vor Kassels Orangerie auf die aufgeweichte Scholle stellen.

Auf Unbeteiligte wirkt der Aue-Pavillon wie ein riesiger Gewächshauskomplex, der unsystematisch mit Goldfolie beklebt ist. Doch tatsächlich ist er die zentrale Kundgebungsstätte für diesen Kirchentag der Kunst, die sich im Namen des Herrn Buergel zur diesjährigen Documenta versammelt hat.

Also annähernd ein Hektart Problemkunst will durchpflügt werden. Es wirkt, als hätten Bono und Al Gore, beraten vom Dalai Lama, dieses Tribunal der Betroffenheit inszeniert. Rein ästhetische Objekte sucht man vergebens. Hier herrscht die differenzlose Unmittelbarkeit der Härte des Lebens. Kein kreativer Überschuss, nirgends, der die Wahrnehmung stimuliert. Es ist nur folgerichtig, dass manche Documenta-Beiträger zugleich Agenturfotografen sind.

Jedes Werk scheint seine Daseinsberechtigung allein dadurch bezogen zu haben, dass es ein elementares Problem der Menschheit auf der Piktogrammebene thematisiert. Wie Konversationskärtchen sind die Werke locker und unaufdringlich im Sakralhangar verteilt. Da gibt es etwa Pläne und Dokumentationen zu Urbanisierungsprojekten oder zu den Wahlen im Kongo 2006. Gern auch mal Schulbänke mit Schiefertafel oder eine Videoinstallation zur Männerprostitution auf Kuba. Auch der Kampf gegen den Krebs wird dokumentiert oder früherer sowjetischer Konstruktivismus mit aktuellen Kuchenschnittchen.

Dazwischen hölzerne Stuhlkreise, in denen man über all das nachdenken und reden kann. Und am Horizont dümpelt ein Elendskahn vor tropischer Fototapete, der das Gegenteil der Titanic darstellt. Galt sie als unsinkbar, ist jener definitiv zur Havarie verurteilt. Denn er besteht nur aus den löchrigen Einfüllstutzen von Benzinkanistern.

Die Documenta 12 will gar nicht mehr als der Ausdruck einer überinformierten Erstwelt-Gesellschaft sein, die sich keinen Eskapismus mehr erlaubt und sich vor lauter Grundalarmiertheit beständig selber auf die Schulter klopft: Save The World Now! Nach dieser Logik hat sich die Kunst als Reich des Ästhetischen, des sinnlichen Erfahrbaren, gefälligst vor den Weltproblemen zu ducken - Werke, die nicht dokumentarisch oder problematisierend daherstelzen, finden hier keinen Einlass. Sicherlich können wir uns nicht als Happy Few abschotten und das Elend der Welt ignorieren.

Die dialektische Frage ist aber, ob sich die Kunst als autonomes Zeichensystem nicht zu klein macht, wenn sie sich ihr Programm von den großen politischen Themen diktieren lässt. Zweckfreie Schönheit dürfen dieser erwachsenen Maxime verbotener Spiele zufolge nurmehr Maschinen produzieren, wie die Motoren der Installation Black Chords, die 13 Les-Paul-Gitarren computergesteuert Akkorde anschlagen lassen. Kein Wunder, dass diese Sektion des autonomen Scheins proppenvoll ist, weil die Besucher hier darüber staunen dürfen, dass sie noch staunen dürfen.

Insofern ist jedoch nicht erstaunlich, dass sich Menschentrauben vor Kunstwerken und Performances bilden, die aus einer Zeit stammen, als das Kunstwünschen noch geholfen hat. Denn deutlicher als die Documentas zuvor nimmt es die diesjährige nicht so arg genau mit der Zeitzeugenschaft. Gut, es war immer schon so, dass die Documenta Formen-Geschichte und die Entwicklungslinien der Kunstbewegungen dokumentieren wollte. Keine Gegenwartskunst ohne die Leistungen der Vergangenheit: Eine Treppe aus Fünfjahresstufen, die ein Zwerg wie auf den Schultern von Riesen nach oben spaziert.

Die Documenta war immer beides: Eine Bilanz der großen Entwürfe, die sich durchgesetzt hatten, und der größenwahnsinnige Ausblick in die Zukunft der Kunst. Die Documenta 12 wirkt, als ob sie um diese Perspektive auf das künftige Ästhetische amputiert sei.

Viele Werke, das gilt vor allem für die Ausstellungsorte Neue Galerie und Fridericianum, sind aus Jahrzehnten, da der Kunsthimmel noch voller Geigen hing, ins Herz der Documenta 12 gefallen. Trisha Browns rekonstruierte Tanz-Performances finden mehr als 30 Jahre nach ihrem Entstehen nun ein begeistertes Publikum. Es weiß die Mischung aus formaler Strenge und spielerischer Leichtigkeit zu schätzen, die eben nur durch Kunst, nicht aber durch angewandtes Problematisieren entsteht.

Und in den in ewigem Siesta-Licht abgeschatteten Sälen von Schloss Wilhelmshöhe (das ist dort, wo der Reis nicht wächst) wirken die fleischprallen Klassiker von Rubens und Rembrandt, die hier immer ausgestellt sind, plötzlich wie die Werke moderner Künstler. Hier zeigen und behaupten sich Stil, Inhalt und Form. Die Bodybuilder und der Lichtdesigner, die machten ihr Ding: Ein Sieg der zeitlosen Bilderfindungskraft über die Fron der Berichterstattung per Werk-Kassiber.

Nun ist natürlich nicht alles schlecht: Kassel hat seine Momente. So laden gesponserte Liegestühle am Rand des zentralen Mohnfelds zu Besinnung und Versenkung. Das Documenta-Areal inmitten des raumgreifenden städtebaulichen Ensembles erwartet den lustvollen Flaneur und weist zwischen Eiscafé und Schlossterrasse der Kunst ihren Platz als zweitschönste Sache der Welt zu.

Nicht ohne Grund hat die akademische Promenadologie, auch Spaziergangswissenschaft oder englisch Strollology genannt, an der Gesamthochschule Kassel ihre Heimat gefunden - wie allerdings auch das Zentralinstitut für Sepulkralkultur, der Bestattungswissenschaft: Kassel ist für die Dauer der Documenta also die zweifache Kapitale für Beerdigungen.

PS: Sie haben sich bestimmt gefragt, wer der erstaunliche junge Mann mit Schirm ist. Das ist Gadinenschal. Wie? Kennen Sie nicht? Gadinenschal ist der größte Button-Designer der Documenta. Hier erfahren Sie alles über den Herrn in Rot.

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