Spätestens seit ihrem vor noch nicht einmal drei Jahren, Anfang 2018, erschienenen Album "Montenegro Zero" ist die 27-jährige Hamburger Rapperin Ronja Zschoche alias Haiyti (nur echt mit dem "I" vor dem "Y") eines der seltenen großen Versprechen des deutschen Pop. Und man kann nicht sagen, dass sie selbst seither ihren Teil des Versprechens nicht erfüllt hätte. Sie hat ihn eher übererfüllt. Nach dem gefeierten "Montenegro Zero" folgten zwei längere und zwei kürzere Alben und über 20 Musikvideos zu den jeweiligen Single-Auskopplungen, allein 12 davon in diesem Jahr.
Vor allem aber war im Grunde nichts davon misslungen. Im Gegenteil. Besonders verblüffend ist das, weil wiederum jedem Song anzuhören ist, dass nicht ewig an ihm herumgebastelt worden sein kann. Haiytis Gespür für Pop, ihr Sinn für Melodien und Gesang und ihre originell irrlichternden Texte, ihre variantenreiche Rap-Technik reichen in Geniestreichen wie "Toulouse" oder "La La Land" unüberhörbar weit über die Grenzen ihres Genres, des in Autotune getränkten, quecksilbrig-dräuender Gangster-Trap-Rap, hinaus.
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Und zwischendurch drehte sie Mitte 2019 ja auch noch ihr Video zur Single "Coco Chanel" in genau der Mietvilla auf Ibiza, in der sich kurz zuvor der damalige österreichische Vizekanzler und Rechtspopulist Heinz-Christian Strache gegenüber einer vermeintlichen russischen Oligarchin um Amt und Würde geschachert hatte. Am originalen Glastisch, der wie im Strache-Video souverän stillos vollgestellt ist mit Wodkaflaschen und Red-Bull-Dosen im Plastik-Sektkübel, rappte sie da: "Huh! Sie nenn' mich Coco Chanel / Zähle die Patte im Stundenhotel / Meine Perlen leuchten hell / Haare Arielle". Und, noch besser: "Noch ein'n, noch ein'n, noch ein'n Deal / Roll' auf 'ner Tonne Ski / Und wenn sie wollen, dann wollen sie".
Bässe wie Befehle von ganz unten
Haiyti bloß als Rapperin, Sängerin und Beat- und Video-Kuratorin zu verstehen, hieße deshalb fast, sie zu verkennen. Oder mindestens die hellwache Interventionskünstlerin, die zum Überfluss auch noch in ihr steckt, zu übersehen: "Noch ein'n, noch ein'n, noch ein'n Deal".
Und jetzt also - Haiytis Schaffensdrang ist aberwitzig - auch noch "Influencer", das keine sechs Monate nach dem letzten grandiosen Studioalbum "Sui Sui", auf dem "La La Land" und "Toulouse" waren, erscheint. Und ja, was soll man sagen: Ist ein weiterer deutscher Trap-Rap-Geniestreich. Auf der Beat-Ebene vollkommen stilsicher in der für Trap typischen Mischung aus abgrundtiefen, nicht einfach geradeaus schiebenden, sondern eher immer wieder - als Befehle von ganz unten - überfallartig bremsenden stumpfen Bässen, scharfem Snare-Geklöppel und nervösem Hi-Hat-Gezüngel. Und über diesem ziemlich avantgardistischen Rhythmusbett liegen dann unwiderstehlich clever kuratierte Melodie-Samples aller Art, kleine Piano-Linien, windig-wabernde Sound-Schwaden, Synthie-Flöten, Geigengefiedel. Man höre nur "Burr" oder "Zu real" oder "Sweet" oder "100 000 Feinde" oder "Tak Tak". Oder eben gleich alles.
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Wobei das eigentliche Ereignis immer wieder die Fähigkeit Haiytis ist, mit ihrer eher dünnen, kratzigen, schwachen Stimme die deutsche Sprache ins Rollen zu bringen, wie in dieser Souveränität vielleicht bislang noch kein deutscher Rap-Künstler und schon gar keine der viel zu wenigen deutschen Rap-Künstlerinnen vor ihr. Das zentrale Stilmittel des Trap ist dabei ein echtes Geschenk: das Rappen in Triolen. Innerhalb eines Viertels klingen also nicht - wie im Rap traditionell üblicher - zwei Töne, sondern drei. Dieser triolische Stil - von den amerikanischen Trap-Pionieren Migos idealtypisch verewigt im Song "Versace", der nur aus diesem einen dreisilbigen Wort besteht: "Ver-sa-ce, Ver-sa-ce, Ver-sa-ce ..." - ist näher am Lallen als am klassischen Sprechgesang. Und musikalisch lallen wiederum lässt sich die deutsche Sprache besser als sprechsingen, weil dann die vielen harten Konsonanten schon ausgewaschen sind, bevor sie um den Beat gebogen werden müssen.
Das Geprotze wird nicht betont ironisch-kritisch gebrochen
Was Haiyti in ihren Songs dann genau sagt, ist einerseits fast schon egal - und andererseits der vertrackt schillernde Kern dieses Pop-Wunders, das kommerziell bislang eher ein Flop geblieben ist. Echte Chart-Hits von Haiyti gibt es nicht und es sieht auch nicht danach aus, als würde sich das bald ändern. Sie spricht in Interviews ungewöhnlich offen darüber. Sie fühlt sich aber auch von vielen, die sie verehren, nicht ganz richtig verstanden. Womit man wieder bei den Inhalten der Texte wäre.
Haiyti, Kind einer alleinerziehenden Musiklehrerin in kleinen Hamburger Verhältnissen, Realschulabschluss, früh eine gute Weile Straßenkind in den raueren Ecken des Schanzenviertels und auf der Reeperbahn, nimmt ihr Genre nämlich sehr ernst. Ernster als man es als zum Beispiel bürgerlicher deutscher Pop-Kritiker ohne Migrationshintergrund eigentlich nehmen kann, wenn man nicht in heillos in Widersprüche verstricken will. Die Werte des Gangsta- und Straßen-Rap, das ganze irre materielle Geprotze, die Luxusmarken, die Bitches, der Waffenfetisch, die Goldketten - all das ist ein großer Teil ihrer Texte. Wird aber nicht betont ironisch-kritisch gebrochen. So einfach ist es eben genau nicht. Höchsten umweht die Klischees bei Haiyti ein zarter kalter Hauch von Vergeblichkeit.
Es geht nicht - feuchter Traum der intellektuellen Popmoderne - bequem darum, über die Haltung dürftige Massenkultur zu smarter Hochkultur umzucodieren. Wenn ein Fiat Punto auftaucht - sie weist darauf hin in einem langen Podcast-Gespräch mit dem Tocotronic-Bassisten Jan Müller aus dem August -, dann nicht, um den bizarren Supercar-Kult des Genres zu karikieren, sondern weil ihre Erfahrung eben gewesen sei, dass der Fiat Punto eben "das Dealer-Auto schlechthin" sei. Nehmt das.
Ins Smartphone gestolperte Poesia povera auf Tilidin
Als ehemalige Studentin der Hochschule für bildende Künste Hamburg, von der sie zufällig entdeckt wurde als Teilnehmerin einer Ein-Euro-Maßnahme der Bundesagentur für Arbeit, in die sie ihre verzweifelte Mutter gesteckt hatte, ist ihr Anspruch dann allerdings doch auch, "einfach einen ein bisschen schlaueren Gangsta-Rap" zu machen: "Jede Bitch macht jetzt auf DIY / doch es gibt auch kein Zurück für Gina Wilde".
Auch auf ihrem Twitter-Account eiern die Wortmeldungen eigenwillig herum zwischen high und low, kaum zu sagen, ob ganz genau ausgedacht oder doch nur hingeschlampt. Die Grundstimmung oszilliert zwischen Superhirn-Halbschlaf und Drogi-Hangover: "wer vorletzte zigarette gibt ist Ehrenmann wer letzte gibt profidulli!"; oder: "ich werde vom schmerz getrieben nicht vom geld! viele verkaufen es so als wäre es das selbe aber sie wissen nicht was es bedeutet!" Prinzip: Gedankenstrom mit Tippfehlern, mal Entstellungen zur Kenntlichkeit, mal sprachliche Auffahrunfälle in fiebrigen Tagträumen: "ich will internationsl aber hsb adhs"; oder: "mein leben nur ein redering fehler!" Ins Smartphone gestolperte Poesia povera auf Tilidin. Das Opioid Tilidin ist die Modedroge des Trap-Rap, es wirkt gleichzeitig beruhigend, enthemmend und euphorisierend. Dialektischere Bedingungen für Pop kann man sich nicht denken.
Was also ist Haiyti jetzt? Die intellektuellste deutsche Gangsta-Rapperin oder die nervöseste Gangsta-Intellektuelle des Landes? Und was genau wäre eigentlich genau der Unterschied? Die Antwort auf die Frage, was das Schlaue an schlauem Gangsta-Rap ist, könnte jedenfalls in beiden Fällen womöglich gar nicht so unähnlich ausfallen. Und es könnte etwas mit der Antwort auf die Frage zu tun haben, wie tief und ungesichert interessante Kunst es wagen sollte, die Erfahrung der Gegenwart zwischen Euphorie, Beruhigung und Enthemmung auszuleuchten. Aber wie auch immer: "Influencer" ein Opus, Kaliber Magnum, zu nennen, geht in jedem Fall absolut in Ordnung.