Haiti: Humanitäre Bauprojekte:Bloß kein Bullshit nach der Katastrophe

Der Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Haiti muss gut durchdacht werden - das bitterarme Land kann es sich nicht leisten, dass Spenden verpulvert werden.

Cameron Sinclair

Der englische Architekt Cameron Sinclair ist einer der Gründer der Organisation "Architecture for Humanity", die auf humanitäre Bauprojekte spezialisiert ist. Die Organisation hat Flüchtlingsbehausungen für die Vereinten Nationen entwickelt sowie beim Wiederaufbau nach dem Tsunami in Asien und dem Hurrikan Katrina an der amerikanischen Golfküste innovative Projekte geleitet. Die Organisation selbst besteht aus einem Kernteam, das über die Webseiten www.architectureforhumanity.org und www.openarchitecturenetwork.org ein Netzwerk von rund 40.000 Architekten, Designern und Experten koordiniert.

Ich erinnere mich noch gut daran, als bekannte Fernsehjournalisten nach dem Hurrikan Katrina auf den Trümmerhaufen von New Orleans standen und verkündeten: "In einem Jahr um diese Zeit werden die ersten Familien wieder in ihre Häuser zurückkehren." Einige Hilfsorganisationen ohne Erfahrung mit Wiederaufbauarbeiten sind noch Haiti; Port-au-Prince; AFP

Passanten im zerstörten Port-au-Prince.

(Foto: Foto: AFP)

Wer noch nie in einem Katastrophengebiet gearbeitet hat, wird die erste Woche nach einem Unglück vom Ausmaß des Erdbebens in Haiti als Chaos voller Heldengeschichten und Verzweiflung erleben. Die Ersthelfer sind ja nicht die Hilfsorganisationen oder das medizinische Personal, sondern die Familien der Verletzten und Toten.

Das ist eine Situation, die jeden überwältigt und überfordert. Deswegen ist diese erste Woche auch nicht der Zeitpunkt, an dem man als Architekt auftauchen sollte, um den Wiederaufbau zu planen. Die Menschen müssen erst einmal ihre Verwandten und Freunde finden, bevor sie sich Gedanken darüber machen, wie ihr Leben in fünf, zehn, fünfzehn Jahren aussehen könnte.

Es ist in dieser Situation extrem schwer, die Lage nüchtern zu betrachten. Auch für uns. Architecture for Humanity hat schon vor dem Erdbeben in Haiti gearbeitet. Deswegen haben wir in den letzten Tagen Kollegen, Freunde und Mitarbeiter verloren, die uns sehr lieb und wichtig waren.

Vergangenen Donnerstag endete ein Anruf aus Haiti mit dem Satz: "Sie sind alle weg." Für alle, die sich nun mit dem Wiederaufbau beschäftigen, heißt es zunächst, so schnell wie möglich Zufluchtsorte zu schaffen, während wir die nächsten drei bis fünf Jahre des Wiederaufbaus planen. Dabei sollte man vor allem vermeiden, dass die Medien den Zeitplan und die Erwartungen bestimmen.

Ich erinnere mich noch gut daran, als bekannte Fernsehjournalisten nach dem Hurrikan Katrina auf den Trümmerhaufen von New Orleans standen und verkündeten: "In einem Jahr um diese Zeit werden die ersten Familien wieder in ihre Häuser zurückkehren." Einige Hilfsorganisationen ohne Erfahrung mit Wiederaufbauarbeiten sind noch schlimmer. "Wenn Sie heute spenden, bringen wir 25000 wieder zurück nach Hause", heißt es da. Die Realität sieht anders aus.

Vorplanung und Schadensermittlung sind schon im Gange, aber das wird etwa ein Jahr in Anspruch nehmen. Ein Gemeindezentrum und ein Büro für den Wiederaufbau müssen eingerichtet werden. Das dauert sechs Wochen bis drei Monate. Um herauszufinden, wem Land und Gebäude gehören, muss man sechs Monate bis fünf Jahre veranschlagen.

Vorübergehende Unterkünfte und Kliniken werden in sechs Monaten bis zwei Jahren entstehen. Aber es wird bis zu drei Jahre dauern, bis Schulen und Krankenhäuser wieder voll funktionstüchtig sind. Der Bau dauerhafter Unterkünfte schließlich wird bis zu fünf Jahre in Anspruch nehmen.

Unsere Hilfsmaßnahmen sind in vollem Gange. Wir arbeiten mit rund einem Dutzend Partnerorganisationen zusammen, sind mit dem amerikanischen Außenministerium in Kontakt, haben genügend Spenden gesammelt, um die ersten 18 Monate unserer Arbeit finanzieren zu können, und haben mit einem Vertreter des Vatikan gesprochen. Und wir beraten Hilfsorganisationen, die nach Haiti aufbrechen.

500-Dollar-Fehler

Das ist auch der Grund, warum wir zunächst Zentren aufbauen, von denen aus wir den Gemeinden beim Wiederaufbau helfen, Hilfsorganisationen und Freiwillige koordinieren. Und warum wir ein Handbuch für Wiederaufbau übersetzen und verteilen, das wir nach dem Hurrikan Katrina und dem Tsunami von 2004 zusammengestellt haben.

Das ist keine Betriebsanleitung für den Wiederaufbau. Es geht zunächst darum, Fehler zu vermeiden. Wenn man sich die Webseiten der Hilfsorganisationen ansieht, sieht das immer so aus, als ob da nie Fehler gemacht werden würden. In Ost-Sri Lanka haben wir uns nach dem Tsunami mit Vertretern von neun weiteren Hilfsorganisationen regelmäßig zu sogenannten No Bullshit Sessions getroffen.

Da mussten wir feststellen, dass wir alle denselben 500-Dollar-Fehler gemacht haben. Zusammengerechnet wäre das eine Schule für 120 Kinder gewesen. Und ich will erst gar nicht mit den Fehlern anfangen, die in New Orleans gemacht wurden. Wenn wir nur Erfolgsrezepte und "Best Practice"-Methoden austauschen, werden wir nie dazulernen.

Ein stabileres Haiti

Sicherlich werden wir auch konkrete Anleitungen geben. Nach dem Erdbeben in Kaschmir haben wir ein Handbuch für erdbebensicheres Bauen für lokale Hilfsorganisationen und Gemeinden entwickelt. Das sollten wir jedem Mitarbeiter einer Hilfsorganisation auf seinen Kindle spielen. Wir müssen aber genauso die freiwilligen Helfer und die Mitglieder der betroffenen Gemeinden weiterbilden. Nicht zuletzt, weil es nicht nur um Unterkünfte geht, sondern auch um Jobs.

Deswegen ist es auch wichtig, dass man sobald wie möglich die Schulen wiederaufbaut. Mal abgesehen vom Grundrecht der Kinder auf Bildung, ist das ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Wiederaufbau. Wenn es keinen Ort gibt, an dem die Kinder tagsüber untergebracht sind, können die Eltern nicht arbeiten, und die Wirtschaft wird sich nie stabilisieren.

Aber die Menschen in Haiti brauchen jetzt nicht Ideen, sie brauchen Unterkünfte. Unsere Aufgabe ist es, Häuser zu bauen, die nicht nur sicher sind, sondern auch den Bedürfnissen und Wünschen der Familien gerecht werden, die in ihnen leben sollen. Wir bauen ja nicht nur ein Dach über den Kopf, wir schaffen Kapital. In Ländern wie Haiti gibt es keine Rentenversicherung, keine Investmentfonds.

Wenn wir die Gebäude aber einfach nur rekonstruieren, schaffen wir lediglich die Grundlage für die nächste Katastrophe. All dies müssen wir im freien Austausch tun. Wenn man ein Bauvorhaben plant, um einen gesellschaftlichen Wandel zu erreichen, und nicht, um Geld zu verdienen, kann das Projekt nur innovativ sein, wenn man es teilt. Deswegen ist unsere Arbeit, sind unsere Pläne und Konzepte nach dem Creative-Commons-Prinzip des offenen Urheberrechts jedem zugänglich.

Langfristige Planung

Wenn wir uns mit anderen Hilfsorganisationen zusammenschließen und unsere Pläne und Unterlagen nach dem "Open-Source"-Prinzip öffentlich machen, können wir das Bauwesen in schwierigen Regionen nachhaltig verbessern. So können wir innovative Lösungsmodelle schaffen, die den jeweiligen Anforderungen vor Ort gerecht werden oder ihnen angepasst werden können, um die Menschen vor künftigen Katastrophen zu schützen.

Vor allem aber müssen wir planen, über diese neu geschaffenen Gemeindezentren langfristig und in Kooperation mit den Gemeinden selbst am Wiederaufbau zu arbeiten. Denn nur die Menschen die dort leben, wissen, welche Möglichkeiten und Materialien, welche Anforderungen und Wünsche es dort gibt. Die Katrina Studios, über die von lokalen Partnern Hilfsorganisationen und Bauprofis gemeinsam betrieben wurden, waren integraler Bestandteil dafür, dass Hunderte Familien in Mississippi und Louisiana wieder ein Heim bekamen.

In Haiti müssen wir genauso vorgehen. Es kann keinen Besitzanspruch auf den Wiederaufbau von Existenzen geben. Hilfsorganisationen müssen wie Schlepper funktionieren, die es möglich machen, dass der Wiederaufbau Haiti stabiler macht, als es zuvor war. Wir können es uns nicht erlauben, die Spendengelder zu verpulvern, indem jeder von uns sein eigenes Süppchen kocht. Haiti hat schon genug durchgemacht.

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