Endlich kommt sie zur Ruhe, hält still, wird leise, abgründig. Cecilia Bartoli, eine der Supersängerinnen der Klassikszene, ist auf der Bühne immer ein Wirbelwind. Sie quirlt durch ihre endlos rasanten Tongirlanden mit einer noch immer verblüffend mechanischen Präzision, ist immer Mittelpunkt, immer Unruhe. Aber jetzt hält sie wenigstens einmal auf der Bühne von Salzburgs Kleinem Festspielhaus inne, singt leiser und leiser, verzaubert. Es ist ihr größter Triumph beim Eröffnungsabend der von ihr ausgerichteten Pfingstfestspiele, die nach Monaten der Theatertotenruhe jetzt vor einem halb gefüllten Saal voll maskierter Festspielbesucher eröffnen durften.
Cecilia Bartoli gibt im roten Anzug eine schräge Powerfrau zwischen Vogue-Chefredakteurin, Puffmutter, Meghan-Beraterin und Hochglanztussi. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt, sondern das des Jetsets, der Beachpartys, der Amüsier-Society. Aber jetzt hat sie, verdammt, das neueste Starlet ihrer Girlie-Collection verloren, jene Supernova der Next-Topmodel-Branche, gegen das eine Heidi Klum bloß wie Herman Munster gewirkt hätte. Das ist für die Beauty-Headhunterin zu viel. Bartoli verglüht, tobt, rast - und singt zuletzt die sich melancholisch und todesverzweifelt dahinschleppende Arie "Lascia la spina", endlich mal ohne Druck, fast als eine Farbenorgie und vor allem unendlich innig: ein großer Opernmoment.
Komponisten haben immer viel übrig für Schurken, Miststücke, Widerlinge, Verlierer. Die kriegen von ihnen die schönste und die beste Musik. Während sich die Sieger und die Guten mit dem marktgängigen und vorhersehbaren Jubel begnügen müssen. In der Salzburger Aufführung von Georg Friedrich Händels überhaupt erstem Oratorium "Il trionfo del tempo e del disinganno" gibt es gleich zwei Verliererinnen, bezeichnenderweise Frauen, während die Sieger natürlich Männer sind. Der "Trionfo" ist das üble katholische Thesenstück eines Kardinals, das via Gehirnwäsche aus einer hübschen Frau - die Bellezza wird von Mélissa Petit gegeben - eine gottgläubige Tugendbetschwester macht. Händel aber geht sehr viel weiter und über alle Thesen hinaus. Seine Musik konstruiert die psychologisch packende und oft auch quälend realistische Selbstfindung einer jungen Frau.
Lawrence Zazzo singt als Philosoph seine Zweifel und Lebensfragen voller Wärme, Leichtigkeit und Sehnsucht
Diese Frau könnte Model-Karriere machen und jeden Lover haben. Aber das genügt ihr nicht. Sie will mehr, sie sucht nach Wahrheit und Sinn. Wäre der Regisseur Robert Carsen nicht nur ein erfahren eleganter Opernbebilderer, sondern auch ein psychologischer Menschenergründer, so hätte er mehr zeigen können und wollen als eine aus dem Ruder laufende, glitzrige "Salzburg sucht das nächste Topmodel"-Show, die von einer agilen Tänzercrew illustriert wird. Denn die wie in den mittelalterlichen Moralitätenspielen personifiziert auftretenden Prinzipien "Vergnügen", "Zeit" und "Augenöffner" ("disinganno" ist ein widerspenstiges Wort, Salzburg übersetzt es mit "Erkenntnis") sind keine Menschen, sondern Stimmen und Strömungen in der Psyche der Bellezza. Händel zeigt sich dabei als der größere und bessere Psychologe als Sigmund Freud. Was hätten Regisseurinnen und Regisseure wie Andrea Breth, Romeo Castellucci, Dmitri Tcherniakov oder Hans Neuenfels aus dieser Vorlage machen können!
So aber muss man in erster Linie auf die Erzählung der Stimmen vertrauen. Anfangs ist die lange Bühnenabstinenz der vier Solisten unüberhörbar, sie fremdeln vor Publikum. Doch nach und nach finden alle zu sich, zu ihren Stimmen, ihren Rollen. Besonders die langsamen und eindringlichen Nummern überzeugen, vor allem aus dem Mund des Countertenors Lawrence Zazzo als "Disinganno": Da singt ein Philosoph seine Zweifel und Lebensfragen voller Wärme und Leichtigkeit und Sehnsucht, ohne jede pädagogische Präpotenz. Ganz im Gegensatz zu Charles Workman als "Zeit", der viril tenorhaft ein Macho alter Machart ist. Und Mélissa Petit bezaubert zunehmend durch Leichtigkeit, mit der sie ihrer "Beltà" Kontur bei ihrer Selbstsuche verleiht, ohne je in falschen Sicherheiten zu scheitern. Ihre Finalarie ist entrückte Selbstfindung.
Leider sind Les Musiciens du Prince-Monaco und ihr Leiter Gianluca Capuano weder die inspiriertesten noch brillantesten Musiker. Alles klebt zu sehr am Takt und damit am Fleck. Der große Bogen fehlt und eine stimmige Dramaturgie, die die Abfolge und die Intensität der Arien, Duette und Quartette in eine sinnlich überzeugende Großform brächte. Das legt sich lähmend über den pausenlosen zweistündigen Abend, der nur zweimal bei den Pfingstfestspielen und im Sommer noch fünfmal gezeigt wird, aber nicht als Stream (war das nicht bis gestern das Gebot der Stunde?). Vielleicht lassen sich die Defizite ja bis zum Sommer ausmerzen. Hoffentlich ist das nicht so unwahrscheinlich, wie dass man sich bis dahin an das Tragen der, die Sinnlichkeit und das Vergnügen tötenden, FFP2-Masken während der Vorstellung gewöhnen wird.