Zum Hallelujah aus dem "Messias" gehen die Smartphones in die Höhe, diesen Moment wollen viele Hallenser festhalten. Schließlich hört man über die vielen Köpfe hinweg auf dem Marktplatz in Halle mehr, als man sieht. Fahnen werden geschwungen, der Bürgermeister freut sich, dass er nach zwei Jahren Pause wegen Corona endlich das Jubiläum zum einhundertjährigen Bestehen der Händel-Festspiele feiern darf. Passend dazu singt der Stadtsingechor den Eingangschoral aus der Kantate "Ich hatte viel Bekümmernis" von Johann Sebastian Bach. Nur der Mann, dem das alles gilt, blickt hoch oben stoisch von seinem Denkmalsockel in die Ferne, vielleicht nach London, wo er ab 1712 dauerhaft lebte, einen Großteil seiner 42 Opern und 25 Oratorien komponierte und schließlich starb, um in der Westminster Abbey begraben zu werden. Die Weste spannt etwas unvorteilhaft über dem prallen Bauch, den der Bildhauer im Sinne der Heldenverehrung des 19. Jahrhunderts zu kaschieren suchte. Bis heute verabredet man sich in Halle gern "beim Händel" oder, leicht anzüglich, "beim Händel unterm Rock".
Was sich dort in den vergangenen einhundert Jahren noch so zugetragen hat, zeigen die Museumsdokumente in dem unweit gelegenen Haus, in dem Georg Friedrich Händel 1685 geboren wurde und die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbrachte: 1935 marschierte zur Eröffnung der Festspiele die Hitlerjugend mit Fackeln in der "Reichshändelstadt" auf. 1959, zum zweihundertsten Todesjahr, brachte die Nationale Volksarmee die Kränze. Ein entsprechender Ausschnitt aus der "Wochenschau" lobt den "großen humanistischen Komponisten" und "volksverbundenen Meister großer Werke" besonders dafür, "dass seine Kunst die Sehnsucht nach Frieden und Glück unterstützte".
Die Geschichte der Händel-Rezeption in Deutschland ist immer auch die Geschichte ihrer politischen Indienstnahme. Als Prestigeobjekt hätten die Händel-Festspiele in der DDR "unter verstärkter Beobachtung" gestanden, sagt Clemens Birnbaum, seit 2009 Intendant der Festspiele. Besonders bei den Oratorien habe man sich bemüht, den religiösen Gehalt zu verdrängen und sie stattdessen als Teil des Klassenkampfs zu deuten. Die Chorszenen wurden als frühe "plebejische Elemente" und Äußerungen des "Volks" gelesen, wozu oft Arbeiterchöre in die Festspiele integriert wurden.
Doch die Händel-Festspiele brachten auch die begehrten Kontakte ins Ausland, besonders Ensembles aus Händels zweiter Heimat England kamen häufig nach Halle. Ebenso wie viele Händel-Liebhaber aus der Bundesrepublik, die damals wie heute oft von den unmittelbar zuvor stattfindenden Händel-Festspielen in Göttingen weiter in den Osten reisen. Schließlich hatte auch die Schwesterfestspiele im ehemaligen Westen ein Hallenser Kunsthistoriker begründet, bereits 1920, weshalb dort schon vor zwei Jahren das einhundertste Jubiläum gefeiert hätte werden können, aber wegen Corona um ein Jahr verlegt wurde.
Hier gratulieren auch Straßenbahn und Fahrradsitzbezug
Halle aber behält das Vorrecht der Geburtsstadt, was sich das Stadtmarketing nicht entgehen lässt. Schon in der Straßenbahn wünschen die Verkehrsbetriebe "unvergessliche Erlebnisse". Von Bierdeckeln, Notizbüchern, sogar Fahrradsitzbezügen blickt der Komponist hinter einer schwarzen Sonnenbrille hervor, aus der zwei Regenbogenbänder schießen. Wahrscheinlich soll der Regenbogen Händel irgendwie diverser wirken lassen, für irgendetwas muss man ihn schließlich auch heute in Anspruch nehmen.
Dabei hat nicht nur Händel in der Kirche am Marktplatz seinen ersten (und einzigen) Musikunterricht erhalten und später im Dom zu Halle als Organist seine erste Stelle angetreten. Schon vor ihm wirkten hier Komponisten wie Samuel Scheidt und Michael Praetorius, später war Wilhelm Friedemann Bach 18 Jahre lang Musikdirektor der Marktkirche, in der sein Vater Johann Sebastian als Experte die Orgel geprüft hatte. Mit der Universität (an der Händel noch ein Jahr lang Jura studierte) war Halle auch als Wissenschaftsstandort von herausragender Bedeutung, was glückliche Konvergenzen zwischen Theorie und Praxis erzeugt.
In der seit 1955 entstehenden Hallischen Händel-Ausgabe wurde schon zu DDR-Zeiten exzellente musikwissenschaftliche Arbeit geleistet, auch wenn die Forscher meistens nicht reisen durften und deshalb viele Autographe Händels beispielsweise in London noch nicht einsehen konnten. Die Nähe zur Edition ermöglicht bis heute die Erprobung bislang kaum bekannter Werke Händels bei den Festspielen - wie etwa in diesem Jahr die Uraufführung des Fragments "Fernando, Re di Castiglia", einer Frühfassung der Oper "Sosarme".
Zum Applaus springt in der ersten Reihe der Bürgermeister als Erster auf
Dennoch hinkten die Aufführungen zu DDR-Zeiten musikalisch dem wissenschaftlichen Stand manchmal hinterher, was vor allem an der Ablehnung der historischen Aufführungspraxis lag. Die neuen, schmaleren Besetzungen, im Westen längst üblich, widersprachen dem ideologischen Postulat der "Volkschöre", galten einzelnen Funktionären sogar als "konterrevolutionär". Einen weiteren Grund nennt im Gespräch Hanna John, die die Händel-Festspiele als Chefin über die Wende gebracht hat: "Wir hatten oft einfach die historischen Instrumente nicht."
Aufzuhalten war die Bewegung gleichwohl nicht. Schon weil John engen Kontakt zu den Schwesterfestspielen in Göttingen hielt, von wo die Besucher häufig auch Schallplatten mitbrachten. Einzelne Hallenser Orchestermitglieder durften zu Workshops bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik reisen, während bei den Händel-Festspielen vor allem der Dirigent Christian Kluttig mit einem neuen, schlankeren Klang experimentierte. Der endgültige Schritt gelang dennoch erst nach der Wende mit der Neubegründung des Händelfestspielorchesters.
Besucht man die Eröffnungspremiere der diesjährigen Händel-Festspiele, bleibt freilich der Eindruck, dass dem Orchester ein paar neue Impulse von außen mal wieder nicht schaden könnten. Wenig binnendifferenziert, eher sahnig und manchmal zähflüssig klingt, was unter dem Dirigat von Christian Curnyn aus dem Graben des Hallenser Opernhauses dringt, wo wie vor einhundert Jahren Händels "Orlando" auf dem Programm steht. Das Hausorchester der Festspiele ist meilenweit entfernt von der rhetorischen Prägnanz und der Bandbreite der Affekte, wie sie etwa am Tag darauf Wolfgang Katschner mit seiner Berliner Lautten Compagney bei Händels "Ariodante" einbringt. Auch die Regie von Walter Sutcliffe für "Orlando" bleibt ziemlich provinziell, gerade weil sie sich fast verzweifelt um Modernität müht.
Sutcliffe, er ist Intendant der Oper Halle, will anscheinend irgendetwas über neureiche Nerds in den Zeiten digitaler Selbstabkapselung erzählen. Jedenfalls äußert sich der Wahnsinn von Händels Titelheld bei ihm darin, dass Orlando (Xavier Sabata) Frauen in seinen Keller sperrt und per Videokamera beobachtet. Wobei sich Sutcliffe die Chance nicht entgehen lässt, selbst einen reichlich voyeuristischen Blick auf Sopranistinnen in High Heels und Badeanzügen zu werfen. Doch so leicht lassen sich die Hallenser ihren Händel nicht nehmen. Zum Applaus springt in der ersten Reihe der Bürgermeister als Erster auf, um die Ovationen im Stehen anzuführen. Schließlich ist man in Halle gern "beim Händel unterm Rock".