Süddeutsche Zeitung

Nachruf auf György Konrád:Liebesforscher, Freiheitsforscher, Spaziergänger

Der homogene Nationalstaat war dem Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden György Konrád stets ein Graus. Denkmäler bezeichnete er auch mal als "didaktischen Kitsch".

Von Lothar Müller

Die Eisenwarenhandlung seines Vaters in der Ortschaft Berettyóújfalu in der ostungarischen Provinz hat György Konrád mehrfach beschrieben. Am rechten Türpfosten war die in einem Perlmuttzylinder steckende Pergamentrolle mit dem handgeschriebenen Hauptgebet für den Freitagabend angenagelt: "Höre Israel, der HERR ist einzig und ewig." Darunter befand sich eine Metalltafel, die das historische Ungarn in den Grenzen von 1914 zeigte. Darauf waren die Gebiete eingeschwärzt, durch deren Verlust im Vertrag von Trianon Ungarn 1920 auf dreißig Prozent seines vormaligen Territoriums geschrumpft war. Die Tafel gab die Losung aus: "Nie, nie niemals!" In diesem Türpfosten fand die Überzeugung der alteingesessenen, gutbürgerlichen Familie Ausdruck, zugleich als gute Ungarn und als gute Juden leben zu können.

Als György Konrád Anfang April 1933 geboren wurde, war in Deutschland Adolf Hitler seit zwei Monaten an der Macht. Im Elternhaus in Berettyóújfalu hörte das fünfjährige Kind beim "Anschluss" Österreichs an Deutschland die Stimme Hitlers im Radio. Nicht lange nachdem im März 1944 die Deutschen Ungarn besetzt hatten, wurden die Eltern verhaftet und nach Österreich verbracht. In dem autobiografischen Roman "Glück" (2001, deutsch 2003) hat Konrád berichtet, wie ihm gemeinsam mit seiner älteren Schwester und drei Vettern die Flucht nach Budapest gelang, einen Tag vor Beginn der Deportation der Juden von Berettyóújfalu, die für die meisten mit dem Tod in Auschwitz endete. Die Eltern kehrten zurück, aber der Vater verlor im Nachkriegsungarn die Eisenwarenhandlung an den sozialistischen Staat.

Ein kleine Anthologie von Lobliedern auf die Großstadt - auf Budapest, Berlin, New York - ließe sich aus Konráds Essays und Romanen herausschreiben. "Die Großstadt ist die höchste Entwicklungsstufe der Freiheit." "Die Städte sind die Rechtfertigung des Menschengeschlechts." Meist ist es der Kosmopolit und leidenschaftliche Spaziergänger, der solche Sätze formuliert. Aber wenn er über die Donaubrücken schreibt oder feststellt, die Unterscheidung von linkem und rechtem Ufer gelte für Budapest mehr noch als für Paris, ist im Hintergrund immer auch die Erfahrung des Jungen aus Berettyóújfalu anwesend, dass die Großstadt ein Ort ist, an dem man sich gut verstecken kann. Eine ihrer Bestimmungen ist die, Zufluchtsort zu sein.

Seit den späten Sechzigerjahren ging der Romanautor, Soziologe und Essayist György Konrád daran, die Berufstätigkeit zu entfalten, die er einmal so beschrieb: "Budapest-Forscher, Liebesforscher, Freiheitsforscher, Verbrechensforscher, Todesforscher, Gottesforscher, Spaziergänger." Die frühen Romane Konráds waren Retrospektiven auf misslungene Lebensläufe, zugleich Collagen aus Innenansichten von Institutionen. Das Debüt, "Der Besucher" (1969), nahm die Ausgesonderten und Randgruppen des Sozialismus in den Blick, "Der Stadtgründer" die Planungsbürokratie, in "Der Komplize" (1980) ließ ein Insasse der Psychiatrie in panischem Wirbel sein von Krieg und Arbeitslager früh lädiertes Leben an sich vorbeiziehen. In die Romane waren berufliche Erfahrungen ihres Autors eingegangen, der im Jugendschutz, als Stadtsoziologe und zeitweilig in einer Nervenanstalt gearbeitet hatte. Gewaltakte, Verletzungen, Zusammenbrüche gingen hier nicht auf das zähe Erbe der alten Gesellschaft zurück, sondern unmittelbar aus der neuen, sozialistischen Gesellschaft hervor. Rasch geriet Konrád in Konflikt mit dem Machtapparat. Die zusammen mit Iván Szelényi verfasste Studie "Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" führte 1974 zur Verhaftung beider Autoren, die nach internationalen Protesten aber aufgehoben wurde.

Westberlin schien der ideale Bündnispartner Budapests und Mitteleuropas

Über zehn Jahre hinweg, von 1978 bis 1988, wurde Konrád in Ungarn mit Publikationsverboten belegt, es war aber zugleich das Jahrzehnt, in dem er im Westen als Autor zunehmend an Bedeutung gewann. Aufenthalte in Westberlin, die DAAD und das Wissenschaftskolleg ermöglicht hatten, sowie in New York trugen dazu bei. In Essaybänden wie "Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen" (1985) waren zwei Gedankenstränge miteinander verflochten. Zum einen die scharfe Kritik an der "Weltordnung von Jalta" aus der Sicht des ausgeschlossenen Dritten der bipolaren Blockkonfrontation, der kleineren Länder Mittel- und Osteuropas. Zum anderen der in der Chiffre "Antipolitik" enthaltene Appell zur Stärkung der Zivilgesellschaften, was nicht zuletzt die Unterstützung der polnischen Solidarność einschloss.

Beides aber, das Plädoyer für Mitteleuropa wie die Einforderung demokratischer Rechte gegenüber dem sozialistischen Machtapparat, war eng mit dem Lob der Großstadt verbunden. Kosmopolitismus, Nomadentum und Urbanität pries Konrád in Umkehrung alter kulturkritischer Verdächtigungen als Dreigestirn der Zivilgesellschaft und machte die Großstadt zur Energiequelle des Widerstands gegen die Übermacht des sozialistischen Staates. Wenn er über das Berliner Zimmer schrieb oder eine Vision des Zerbröselns der Mauer entwickelte, erschien Westberlin als der ideale, weil von der Erosion der Blocklogik durchsetzte Bündnispartner Budapests und Mitteleuropas.

Es hatte etwas Folgerichtiges, dass György Konrád von 1997 bis 2003 Präsident der Berliner Akademie der Künste war. Als er dann, gerade ein halbes Jahr im Amt, die Entwürfe zum "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" attackierte, erregte vor allem die Wendung Aufsehen, es handele sich um "gnadenlosen und didaktischen Kitsch". Eigentümlich an seiner Denkmalsskepsis war aber vor allem die Perspektive, aus der er sie entwickelte. Der von ihm selbst entworfenen Ort, "wo auch die ermordeten Juden gern gespielt und gesessen hätten, gern flaniert wären", lag in der Nachbarschaft seines Werks: "Einige der ermordeten Kinder kannte ich, ich habe eine Ahnung davon, was ihnen gefallen könnte." Es ist von hier nicht weit bis zu der beklemmendsten Passage im gesamten Werk Konráds, dem Abschnitt "Darf man ein Kind verbrennen?" in dem Roman "Geisterfest" (1986). Er versetzt darin sich selbst in die Gaskammer von Auschwitz, in der seine Schulkameraden starben, die nicht wie er aus Berettyóújfalu nach Budapest entkommen waren. In dem Sammelband "Über Juden" (2012) lässt sich nachlesen, wie Konrád dann doch mit dem Mahnmal in Berlin, als es gebaut war, seinen Frieden gemacht hat. Und auch, wie er, im respektvollen Dialog mit Amos Oz, zwar den Staat Israel konsequent verteidigt, für sich selbst aber darauf beharrt, ein Jude in der Diaspora zu bleiben, sei es in Budapest, Berlin oder auf dem Lande.

Unter Berufung auf seine Erfahrungen hat Konrád im Frühjahr 2003 den Irakkrieg als legitime Intervention gegen einen Diktator verteidigt, noch ehe er begonnen hatte, und damit eine scharfe Replik seines ungarischen Landsmannes Ivan Nagel ausgelöst. Die Zeitgeschichte nach 1989/90 hat seine Hoffnung auf ein kosmopolitisch-urbanes Mitteleuropa nicht erfüllt. Der Essay "Europa und die Nationalstaaten" (2013) setzte noch einmal die Großstadt gegen den Staat, den Urbanismus gegen die Rede vom homogenen Nationalstaat und sah im Ungarn Viktor Orbáns die Symbiose von Staatsvergottung und Kaderpartei, wie sie die Ära des realen Sozialismus geprägt hatte, im Gewand eines modernisierten Nationalismus wiederkehren, in dem noch die alten Dämonen spuken, die in Gestalt der Verfluchung von Trianon den Türpfosten des Vaters zierten. Nach langer Krankheit ist György Konrád am vergangenen Freitag im Alter von 86 Jahren in Budapest gestorben.

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SZ vom 16.09.2019/biaz
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