Ungarische Literatur:Die Leere um den Text

György Dragomán zeigt in seiner Novellensammlung "Löwenchor" die hohe Kunst der Aussparung.

Von Lothar Müller

Ein Mädchen erzählt. Es hat sich das Lederhalsband mit Blumenmuster umgebunden, den schimmernden Haarreifen aufgesetzt und Lackschuhe angezogen. So geht es zu Tante Ilonka ins Wohnzimmer. Gestern abend war Silvester, jetzt ist Neujahr. Das Kind sollte das große Fest der Eltern nicht stören. Darum ist es bei der Tante und steht nun sehr unbequem da, "das Zimmer wird mit einem Mal von rauschender, knisternder, fiepender Musik erfüllt". In der einen Hand hält das Mädchen das Antennenkabel, in der anderen einen Schraubenzieher, der im Inneren des alten Fernsehers steckt, dem die Direktübertragung des Neujahrskonzerts aus Wien nur mit Mühe gelingt.

Die kleine, nur wenige Druckseiten umfassende Geschichte "Walzer" ist charakteristisch für die Art und Weise, in der György Dragomán in seinem Buch "Löwenchor" die Erzählform handhabt. Es trägt den Untertitel "Novellen" und weckt damit die Erwartung scharf umrissener, womöglich unerhörter Begebenheiten, in denen sich die Konstellation eines Lebens, einer historischen Situation, einer sozialen Ordnung verdichtet. Aber was ist die Begebenheit in Tante Ilonkas Wohnzimmer? Das Vibrieren des Bildschirms, die Kopfschmerzen, die laute Musik, von der das Mädchen durchdrungen ist, das Kribbeln der Haut und der Haarwurzeln, während es vor dem herannahenden Schwindel die Augen für einen Moment schließt? Ja, das ist es, was geschieht. Aber das Entscheidende steckt in dem, was ausgespart ist, im Raum des Nicht-Erzählten, nur Angedeuteten, der das Wohnzimmer umgibt. In den fünf Gläsern Eierlikor, die Tante Ilonka dem Kind "im Andenken an den armen Onkel Virdszil" verabreicht hat, in dem beiläufigen Nachsatz: "sie wäre so gerne einmal nach Wien gefahren, um sich das Neujahrskonzert anzusehen".

Viele Erfahrungen aus der Zeit vor 1989 sind ins Schweigen abgesunken

In vielen dieser 29 Geschichten spielen Figuren mit wie der tote Onkel, der ein begnadeter Walzertänzer war, oder unerreichbare Orte wie Wien in den Zeiten eingeschränkter Reisefreiheit. Fast überall gibt es eine Tonspur, auf der irgendeine Musik erklingt, vom Handyklingeln über einen tieftraurigen Schlager bis hin zum Open-Air-Konzert einer Heavy Metal-Band. Die Musik gehört zur Balance von Begebenheit und Aussparung, die György Dragomán sich mal nach der einen, mal nach der anderen Seite hinneigen lässt. Radikal ist die Aussparung, die in der Erzählung "Ultraschall" den Song von Louisy Joseph umgibt. Andrea, in einer Straßenbahn sitzend, drückt ihn nach wenigen Sekunden auf ihrem Handy weg. Soeben ist eine Mutter mit dem Buggy und ihrem Jungen ausgestiegen, dass sie mit dem nächsten Kind schwanger ist, konnte man ihr ansehen. Was das Ultraschallbild zeigt, das Andrea zu einem Kügelchen zusammenrollt, gehört zum Leerraum des Unerzählten. Aber am Ende der zwei Druckseiten wird es ahnbar.

Ungarische Literatur: Auffallend viele Erzählungen von György Dragomán sind mit Musik unterlegt.

Auffallend viele Erzählungen von György Dragomán sind mit Musik unterlegt.

(Foto: Alexandre St-Louis/Unsplash)

Der Schriftsteller György Dragomán ist 1973 in Siebenbürgen geboren. Als Kind der ungarischen Minderheit in Rumänien aufgewachsen, siedelte er 1988 mit seiner Familie nach Ungarn über. Die Herrschaft Ceaușescus hat er als Jugendlicher erlebt, dann aus der Ferne verfolgt. Mit den Romanen "Der weiße König" (2005, dt. 2008) und "Der Scheiterhaufen" (2014, dt. 2015) ist er bekannt geworden. In beiden hat er die Erzählerstimme Heranwachsenden anvertraut. In "Der weiße König" einem elfjährigen Jungen im Jahr 1986, in dem Radioaktivität aus Tschernobyl den Schulsportplatz durchtränkt, die Mutter vom Geheimdienst bedrängt wird und zu den Kinderspielen das "Hausdurchsuchungsspiel" zählt. In "Der Scheiterhaufen" einem 13 Jahre alten Mädchen, das den Sturz des "Genossen General" miterlebt und das Fernsehbild in sich aufgenommen hat, in dem sein blutüberströmtes, wachsgelbes Gesicht im grauen Schlamm liegt.

Nun, in "Löwenchor", tauchen wiederum manche Kinder auf, und in "Puerta del Sol" hallt das Echo einer Übersiedlung von Siebenbürgen nach Ungarn im Helden der Erzählung nach, der nach dem Tod seiner Mutter, die so gerne spanische Lieder sang, nach Madrid reist, den Kopf voller Erinnerungen an die Schikanen, denen das Leben der Eltern zum Opfer fiel. Aber vieles aus der Welt vor dem großen Umbruch hat sich in den Leerraum zurückgezogen, der diese Erzählungen umgibt, oft gehen nun die Schrecksekunden aus dem elementaren, unvermeidlichen Fortgang des Lebens hervor. Ein Vater sieht seinen Sohn auf der Spitze eines alten Kirschbaums stehen, hoch oben, an einem Ast hängend, der ihn kaum noch hält, eiserne Zaunspitzen unter sich. Ein Mann, eben erst dem Alkohol entronnen, der ihn fest im Griff hatte, sieht sich einer Champagnerflasche ausgesetzt, die ihm die junge Frau, die ihn kaum erst kennt und doch tatsächlich besucht, zu Silvester mitgebracht hat. Die anschwellende Musik auf der Straße ist hier Teil der Situation, aber oft wandert die Musik in das Innere der Figuren ein: "um ihn herum herrschte tiefe Stille, sie klang in seinen Ohren, und dann, als hätte jemand eine gedrückte Gitarrensaite losgelassen, erklang etwas in ihm, ein tiefer und langer Ton, die Erinnerung an eine gespielte Melodie war noch darin, und Ferenczi verstand plötzlich, dass dieser Moment ihm gehörte."

Ungarische Literatur: György Dragomán: Löwenchor. Novellen. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp, Berlin 2019. 269 Seiten, 24 Euro.

György Dragomán: Löwenchor. Novellen. Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Suhrkamp, Berlin 2019. 269 Seiten, 24 Euro.

Zwischen zwei Pole ist die Musik in diesem "Löwenchor" gespannt. Am einen Pol ist sie mit den Erinnerungen im Bunde und mit den gärenden Krisenstoffen, die darin verborgen sind. Vor der Rückkehr einer Mutter aus dem Krankenhaus nach ihrem "Unfall" führt eine Blutspur aus dem Bad in ein verschwiegenes Dreiecksverhältnis hinein. In der Groteske "Der Besen" setzt ein Sohn mit gutem Grund das Jazzschlagzeug seines Vaters in Brand, und in der Erzählung "Erbschaft" lernt der Sohn eines Arztes nach und nach seinen toten Vater kennen, als er nach dessen Tod beginnt, seinen Sekretär zu inspizieren und auf eine verstaubte Mundharmonika stößt. Der andere Pol sind die musikunterlegten Tagträume, in denen die Begebenheiten surrealistische Züge annehmen wie in der Geschichte von Doktor Lukics, der bei seiner Arbeit "an einer chronologischen Aufstellung aller Ereignisse der Welt" von einem Abgesandten der Macht gestört wird.

Die Übersetzerin Timea Tankó ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert

Es beeindruckt, wie einfallsreich György Dragomán die Form der schmalen Erzählung als Instrument der Menschenerkundung handhabt. Aber nicht alles ist gelungen. Ein "Postmodernes Date" erschöpft sich im Ausmalen technisch avancierter Überwachung und Ausspionierung des Gegenüber. Umso gelungener die Erzählungen, in denen sich die Musik in alte Grammophone oder jüngst ausrangierte Elektrogeräte einnistet oder in denen ein Meister der analogen Reparatur die Daten (samt Musik) aus einem zertrümmerten Laptop sichert. Die Titelerzählung "Löwenchor" entstammt dieser Sphäre, einer Sequenz von Miniaturen, in der ein Großvater, der an seinen Ohrensessel gefesselt ist, und sein Enkel die Welt erkunden, den Nahbereich zum Kosmos werden lassen. Der Ohrensessel hat Löwenfüße, die Mahagonikommode Löwenköpfe an den Schubladen, in den knurrenden Gesang dieser Schubladenknöpfe stimmen Großvater und Enkel ein. Auch sie sind von Ausgespartem umgeben. Hörbar gemacht wird es im Deutschen von Timea Tankó. Sie hat alle Texte übersetzt, außer "Puerta del Sol", dessen sich Terézia Mora angenommen hat, und ist wegen ihrer Stilsicherheit für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Sparte "Übersetzung" nominiert."

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