Kolumne "Nichts Neues":György Cziffra

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Der kleine György Cziffra durfte die Klavierstunden seiner Schwester übernehmen. Hier spielt er Schubert. (Foto: Screenshot: Youtube)

Kulturschätze der Vergangenheit wiederentdeckt: Diesmal ein Pianist und dessen trauriges Leben.

Von Johanna Adorján

Zufällig entdeckte ich auf Instagram ein kurzes Schwarz-Weiß-Video, auf dem ein dicker Junge im Matrosenanzug auf einem Konzertflügel Schuberts Impromptu Nr. 4 spielt, und zwar so ausdrucksvoll und ernst, dass ich den Namen des Interpreten googelte, den ich unverzeihlicherweise nicht kannte. So stieß ich auf den traurigsten Wikipedia-Eintrag, den ich jemals gelesen habe. Der Junge war György Cziffra, einer der bekanntesten Pianisten des 20. Jahrhunderts. Er wurde am 5. November 1921 in Budapest geboren, als Rom (Einzahl von Roma). Sein Vater war in den 1910er-Jahren als Straßenmusiker durch Paris gezogen, später lebte die Familie in Budapest, in ärmsten Verhältnissen. Immerhin, es gab ein Klavier. Als kleiner Junge hörte Cziffra seine Schwester üben und war hin und weg. Seine Schwester verzichtete dann ihm zuliebe auf ihren eigenen Unterricht. Mit fünf Jahren improvisierte er bereits in einem Zirkus über musikalische Motive, die ihm das Publikum zurief. Mit neun Jahren wurde er an der Franz-Liszt-Musikakademie in Budapest als Student aufgenommen. Mit neun!

Erste Konzerttourneen. Dann brach der Krieg aus. Cziffra wurde eingezogen, kämpfte an der Ostfront. Später war er zwei Jahre Gefangener in einem russischen Gulag, noch später wurde er beim Fluchtversuch aus dem nun stalinistischen Ungarn gefasst: drei Jahre Gefängnis, Zwangsarbeit. 1956 glückte die Flucht. Ein umjubeltes Konzert im Wiener Musikverein begründete Cziffras internationale Karriere. Bald lebt er in Paris. Konzertiert auf der ganzen Welt (oft mit Lederbinde überm rechten Handgelenk, einer Verletzung während der Zwangsarbeit geschuldet). Seine Zugaben lässt er junge Pianisten spielen, um sie bekannt zu machen - was für eine schöne Idee. Doch nichts bleibt gut: 1981 stirbt sein Sohn mit nur 39 Jahren, stürzt betrunken in einen offenen Kamin. Daraufhin tritt György Cziffra kaum noch auf und nie wieder mit Orchester.

Er starb 1994. Und dann findet man zufällig auf diesem bescheuerten Instagram dieses Video von ihm als dickem Jungen im Matrosenanzug mit viel zu großem Kragen, und es macht einen ganz traurig, obwohl er so schön spielt und man ja noch gar nicht weiß, was noch alles kam.

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