Süddeutsche Zeitung

Flauberts Roman "Bouvard und Pécuchet":Die Realität ist Kulisse

Flauberts Romane sind in der Regel so genau recherchiert, dass man jede Straße findet, wenn man sucht. Gilt das auch für das Herrenhaus in seinem unvollendeten Roman "Bouvard und Pécuchet?" Ein Selbstversuch.

Von Thomas Steinfeld

Achtzehn Monate hatten die Herren "Bouvard und Pécuchet", die Helden des letzten und seltsamsten der Romane Flauberts, nach einem Haus in der Provinz gesucht, in dem sie das Leben wohlhabender Privatiers führen und ihren intellektuellen Interessen nachgehen wollten. Sie hatten die gesamte Umgebung von Paris durchreist, sie waren im Norden bis nach Amiens und im Westen bis nach Le Havre gekommen, ohne Erfolg: "Sie suchten eine Landschaft, die wirklich ländlich war, ohne unbedingt auf einer malerischen Lage zu bestehen, aber ein begrenzter Horizont stimmte sie traurig. Sie flohen die Nachbarschaft von Siedlungen und scheuten doch vor Einsamkeit zurück." Ein Bekannter, der ihren Traum kennt, bringt schließlich die Rettung. Sie liegt noch weiter westlich, im Calvados, genauer: zwischen Caen und Falaise, und besteht aus einem Pachthof von achtunddreißig Hektar mit einer Art Schloss und einem sehr ertragreichen Garten.

Im März ziehen sie um, zwei Möbelwagen werden gepackt, die beiden fahren auf getrennten Wegen in ihr neues Heim. In der Mitte, bei Bretteville-sur-Laize, begegnen sich die beiden Fuhren, mitten in der Nacht und bei schlechtem Wetter. Sie verirren sich, niemand öffnet ihnen, und sie werden von Hunden ausgebellt. Aber von dort ist es nicht mehr weit. Als sie am nächsten Morgen aufwachen, scheint die Sonne. Sie stellen sich ans Fenster, um die Gegend zu betrachten: "Vor sich hatte man die Felder, rechts eine Scheune und den Kirchturm, links eine Pappelwand". Das Dorf in der Nachbarschaft soll Chavignolles heißen.

Für den Roman "Bouvard und Pécuchet", schrieb Flaubert seiner Schwester, habe er "drei Reisen in verschiedene Gegenden" machen müssen, "um ihren Rahmen, die zur Handlung passende Umgebung zu finden". So ist das bei diesem Schriftsteller: Er macht einen Plan, und dann sucht er so lange, bis die Wirklichkeit zu seiner Vorstellung passt. Die Realität ist hier die Kulisse, aber es gibt sie, bis ins scheinbar Nebensächlichste hinein.

Dichtung soll ein gesteigerter Tagtraum sein, wahrer als die Wirklichkeit

Im Sommer 1874 reiste Flaubert selbst, und während dieser Ausflüge muss er das passende Heim für seine Helden gefunden haben. Der Schriftsteller ließ aber auch reisen, um das Material für sein Buch herbeizuschaffen. So schickte er seinen Schüler Guy de Maupassant an die Küste, um die Stelle zu finden, an dem sich unter Bouvard die Erde zu öffnen droht, während er fürchtet, dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt: "Hier ist mein Plan, an dem ich nichts ändern kann", schrieb Flaubert dem jungen Kollegen, nachdem dieser die Felsen von Étretat nicht nur beschrieben, sondern auch gezeichnet hatte. "Die Natur muss sich dazu eignen (das Schwierige ist, nicht in Widerspruch zu ihr zu geraten und diejenigen, die die Gegend gesehen haben, nicht zu verärgern)." Der letzte Satz mag der Konvention geschuldet sein. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, Dichtung möge eine Art gesteigerter Tagtraum sein, voller kleiner Details, die wahrer erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind.

"Mein Ordner mit Notizen hat eine Höhe von acht Zoll", prahlte Flaubert, kurz bevor ihn der Tod aus der Arbeit an einem Roman riss, an dem er vermutlich bis in alle Ewigkeit hätte arbeiten können. Denn nicht weniger als die gesamte Gelehrsamkeit seiner Zeit wollte er darin unterbringen, das Wissen über die Landwirtschaft und den Obstbau, über die Chemie und die Anatomie, und so geht das fort, bis die beiden ehemaligen Kopisten auch an der Philosophie, der Pädagogik und der Moral verzweifeln. Und alles, was Flaubert in sein Buch schrieb, erschien ihm als wahr: "Das gesamte Buch hindurch dürfte es kein Wort geben, das auf meinem Mist gewachsen wäre, und hätte man es einmal gelesen, dürfte man sich nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen."

Am Ende des Romans hätte deswegen vermutlich eine universale Stille gestanden, dieselbe Stille, die sich über das Haus in der Normandie hätten senken müssen, wenn die beiden Kopisten endlich, wie vom Autor geplant, wieder an ihre Schreibtische zurückgekehrt wären. Im äußersten Realismus, ließe sich sagen, verbirgt sich etwas ganz und gar Fantastisches. Man bemerkt es daran, dass die Zeit, die Bouvard und Pécuchet für ihre Forschungen verwenden müssten, sehr viel länger sein muss als die historische Zeit, in die das Buch eingebettet ist. Vom selben Ineinander von Realismus und Fantastik sind auch die Häuser, die Dörfer und die Landschaften gezeichnet, durch die Flaubert seine Figuren ziehen lässt.

Auch in "Bouvard und Pécuchet" ist das Erfundene wahr

Die Schauplätze für "Madame Bovary" sind bekannt, und wo die "Éducation sentimentale" spielt, lässt sich anhand eines Stadtplans von Paris ermitteln. Aber auch in "Bouvard und Pécuchet" ist das Erfundene wahr. Man kann sich selbst überzeugen: Man nehme die Straße von Falaise nach Pont D'Ouilly, biege kurz vor Erreichen des Flusses Orne nach rechts ab, bis man an ein Haus gelangt, das allein auf einer Anhöhe liegt. Der Blick geht über Felder, rechts steht ein Kirchturm von gedrungener Gestalt mit einem spitzen, mit Schiefer gedecktem Turm. Und fährt (oder besser: geht) man weiter, sieht man auf der anderen, tiefer liegenden Seite der Orne ein Schloss mit einer weißen Fassade, "und bis zum Fluss hinunter, in dem sich die Schatten der Platanenreihen abzeichnen, erstreckt sich eine Wiese."

Elisabeth Edls „Memoiren eines Irren“

Elisabeth Edl gehört zu den nun wirklich sehr wenigen literarischen Übersetzern in Deutschland, die ihre eigenen Leser haben, also Leute, die ihre Flaubert-Übersetzungen nicht nur wegen Flaubert kaufen, sondern auch wegen ihr. Über ihre zahlreichen Klassiker-Übersetzungen sei sie selbst zu einem Klassiker geworden, so formulierte es die Literaturkritikerin Ursula März kürzlich. Die neueste Gelegenheit, das dynamische Duo Flaubert & Edl zu erleben, ist ihre Neuübertragung der "Memoiren eines Irren", Flauberts erstem Roman, die Liebesgeschichte eines 15-jährigen Jungen und einer zehn Jahre älteren Frau. Unglücklicherweise ist sie verheiratet, die Liebe bleibt einseitig, aber das Motiv der vergeblichen Liebe begleitet Flaubert durch sein ganzes Werk. Felix Stephan

Den Kirchturm im Blick, immer einigen Abstand zum Dorf haltend, dauert es nicht lang, und es liegt dort ein Herrenhaus mit einer Scheune und einem großen Garten, der von einer Mauer umschlossen ist. Und ein wenig oberhalb, über einem Gelände, das einmal ein kleiner Weinberg gewesen sein mag, dürfte der Pavillon gestanden haben, von dem im Buch die Rede ist. Ob dieses Gebäude der Schauplatz eines Romans sei? "Ach, gehen Sie fort", ruft der Besitzer schon von Weitem, wenn man Anstalten macht, sich zu nähern, und die Hunde bellen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5484996
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/fxs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.