Süddeutsche Zeitung

Zum Tod von Guntram Vesper:"Wir sollten wissen, was um uns ist"

Mensch und Gesellschaft sind nicht anders zu begreifen als über den Weg der Geschichte, das wusste der Dichter und akribische Intellektuelle Guntram Vesper. Er starb am Donnerstag im Alter von 79 Jahren.

Von Hilmar Klute

Guntram Vesper ist, er war da schon Mitte siebzig, etwas widerfahren, das einem Schriftstellers nur sehr selten beschieden ist, nämlich die spektakuläre Wiederentdeckung seines dichterischen Werks zu Lebzeiten. Das war im Jahr 2016, als Vesper für ein gewaltiges Buch den Preis der Leipziger Buchmesse zugesprochen bekam. "Frohburg", so lautete der Titel von Vespers mehr als tausendseitigem, aus Collagen, Erinnerungen und Reflexionen bestehenden Roman. Frohburg - dieser Name steht auch als Programm über dem gesamten Werk dieses Autors, der schon früh, mit Mitte zwanzig die literarische Bühne betreten hatte. Das geschah im Jahr 1967, als Vespers erster schmaler Band mit Gedichten, "Fahrplan", so lautet der gut in die damalige Zeit passende Titel, in der Eremitenpresse des so tragisch waghalsigen und mutigen Verlegers V.O. Stomps erschien.

Frohburg, das ist die Stadt in Sachsen, in der Guntram Vesper 1941 geboren wurde, und aus der er, ein lebenslanger Archivar seiner selbst und der Zeitläufte, seine Motive und seine Geschichten mitgenommen hatte, als er 1957 mit seiner Familie nach Hessen kam, in das Dorf Steinheim am Vogelsberg, das neben dem Geburtsort die zweite Koordinate in Vespers Leben und Werk werden sollte. Er war ein früher Zeitgenosse der großen deutschen Lyriker der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Peter Huchel, Johannes Bobrowski, Günter Eich und Günter Kunert waren Vorbilder und einige von ihnen wurden Wegbegleiter.

Seine Anrufung des Schicksals ging über die eigene Schicksalserfahrung hinaus

Über viele Jahre hinweg hatte Guntram Vesper einen festen Platz im deutschen Literaturbetrieb. Und das nicht als Autor geschmeidiger Romane und Erzählungen, sondern als Dichter rauer und unbequemer Gedichte und Prosawerke, deren Titel alleine schon das Zeug hatten, in den deutschen Sprachschatz zu wandern: "Nördlich der Liebe und südlich des Hasses", "Die Inseln im Landmeer", "Die Illusion des Unglücks und "Kriegerdenkmal, ganz hinten". Es war Guntram Vesper ernst mit diesen Allegorien, den Bezüglichkeiten und der Anrufung des Schicksals, das über die eigene Schicksalserfahrung hinaus geht: "Was wird aus einem Land, / wenn/ sein Gedächtnis krank ist/ und was bedeutet ein Mensch, der/ keine/ Erinnerung hat." Auch das, oder gerade das ist das Frohburg-Muster in Guntram Vespers eindrucksvoller Literatur. Mensch und Gesellschaft sind nicht anders zu begreifen als über den Weg der Geschichte; die Vergangenheit ist und bleibt die Leerstelle, die mit dem kargen Material des Gedichts zu füllen ist.

Häufig war Vesper Gast in Schreyahn, dem alten Rundlingsdorf im Wendland, in dem heute eine Aufenthaltsstätte für Stipendiaten jungen Autoren, Musikern und Künstlern die Möglichkeit gibt, in der Stille dieser herrlichen Landschaft zu arbeiten. Wenn Vesper dort war, Anfang der achtziger Jahre auch selbst als Stipendiat, dann sah er natürlich die Weiden, die stillen Bäche und den großen Himmel darüber. Aber er nahm auch die Schrecken wahr, die in diese wie jede Landschaft eingegraben sind. Die finsteren, nur im Gedicht noch zu bannenden Grausamkeiten der Geschichte: "Aus dem Fenster sehen/ auf Dorfplatz, Schaukel/ Gewalt vergangener Tage".

Für all dies bekam Vesper viel Beifall und auch Preise. Er kümmerte sich um junge Dichter, prüfte ihre Arbeiten mit einer unbestechlichen, sicherlich auch unbequemen Direktheit. Wer ihn erlebt hat, mochte vielleicht seine lässig-elegante Art des Umgangs, den feinen, beinahe aristokratischen Habitus, den er gelegentlich auch in seine äußere Erscheinung mit weißem Hemd, schwarzer Weste und Krawatte legte. Irgendwann war Vesper dem Betrieb entrückt.

Dies war, so liest man, wohl die Folge eines privaten Schicksalsschlags, aber sicher auch eine der Abkehr des literarischen Marktes von diesem Typus des mit Akribie und großer intellektueller Redlichkeit an der poetischen Darstellbarkeit von Geschichte arbeitenden Lyrikers und Erzählers. In seinen Gedichtbänden hat Vesper auch grafisch Akzente gesetzt. Mit seiner klaren Druckschrift geschrieben, standen die Texte neben Rötelzeichnungen, die wie bestätigende Modelle seiner Textarchitekturen aussahen.

"Ich wähle den Weg über ein mittleres Gebirge. Zu den Zugvögeln sag ich ja."

Die Dringlichkeit des Tons, die appellative Absicht seiner Gedichte hatte nichts mit der pragmatisch gemeinten Politlyrik der sechziger Jahre, nichts mit Erich Fried oder Arnfried Astel gemein. Alles, was Guntram Vesper aus Erfahrung, historischer wie eigener, in Sprache verwandelt hat, folgt einer Ästhetik der überdeutlichen Wahrnehmung und der klaren Benennung. Damit verbunden war die poetische Maximalforderung, das Schreiben jederzeit vor der Geschichte und vor dem Einzelnen rechtfertigen zu können:"Wir sollten wissen, was um uns ist, was geschieht, wer wir sind, das vor allem."

Vor allem, wer wir sind. Guntram Vespers großes poetisches Geschichtspanorama "Frohburg" wird als monolithisches Gebilde in Erinnerung bleiben, dafür sorgt auch die schützende Hand von Klaus Schöffling, der Vesper in seinem Verlag die Wiederentdeckung möglich gemacht hat, und der Vespers Werk mit Gesamtausgaben seiner Prosa und seiner Gedichte lebendig hält. Vespers Gedichten, deren knorrige Schönheit jeden ergreift, der sie liest, wünscht man unablässig neue Leser: "Ich wähle den Weg über/ein mittleres Gebirge./ Zu den Zugvögeln sag ich ja/ Sonnenaufgänge/ versäume ich,/ der Weg läuft westwärts./ Feinde gibt es dort keine./Leider/ auch keine Freunde."

Am Donnerstagmorgen ist Guntram Vesper, der ein stilles Leben mit alten Büchern und immer wieder neu zu überprüfenden Texten geführt hat, mit 79 Jahren in Göttingen gestorben.

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SZ vom 23.10.2020
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