Süddeutsche Zeitung

Gerhard Gundermann:"Das sind im besten Sinne Heimatlieder..."

"... das traut man sich ja fast gar nicht zu sagen!" Der Baggerfahrer, Liedermacher und Lebensgeist Gerhard Gundermann und sein großer Erfolg - 22 Jahre nach seinem frühen Tod.

Von Cornelius Pollmer

Wenn der gemeine Irrealis einem runden Geburtstag zu nahe kommt, geht das selten gut aus, im Fall von Gerhard Gundermann tut es bis heute besonders weh. Aber hilft ja nix, also: Würde er noch leben, er wäre 65 geworden in diesem Jahr, der Baggerfahrer, Liedermacher und Lebensgeist Gerhard Gundermann.

Aber er lebt nicht mehr, deswegen kann keiner wissen, wo und wie Gundermann sich heute auf den inzwischen noch größeren Schlachtfeldern seines Schaffens positionieren würde, beim Umweltschutz, der Heimat, dem Bergbau. Keiner kann ihn befragen, welche Gedanken er sich zur Zukunft der Lausitz so mache, einer Region, der mit dem Kohlebergbau jetzt langsam, schmerzhaft und aus übergeordnet natürlich guten Gründen das einzige Große genommen wird, das ihr geblieben ist.

In Friedenszeiten wäre es albern, aber jetzt ist man für etwas Heiterkeit dankbar

Und keiner, spätestens das ist wirklich ärgerlich, keiner kann dem sehr großen, toten Gerhard Gundermann erzählen, dass er bis heute nie so richtig gestorben ist.

Das Dresdner Staatstheater, der vergangene Sonntag. Wie Trauerflor liegen über vielen Polsterstühlen schwarze Stoffbahnen zur Wahrung von Abständen, vom Folgetag an wird das Theater wieder komplett geschlossen bleiben. Der November ist gerade zwei Tage alt, aber bereits tief in alle Knochen gekrochen. Die hier gleich aufgeführt werdende Revue fände man in Friedenszeiten womöglich zu albern, im Corona-Winter aber ist man für alle Heiterkeit dankbar, auch für solche, die weniger stichhaltig begründet bleibt. Und es geht ja wirklich gut los damit, dass zum Auftakt dieses mit "Alle oder keiner" betitelten Abends nicht ein Gundermann, sondern sechs Gundermänner und -frauen auf die Bühne kommen. Wie Minions stehen sie da in ihren viel zu blauen Hosen und lugen durch viel zu große Brillen in den Saal.

Man kann die Wendung, etwas Älteres sei "erschreckend aktuell", eigentlich nicht mehr ernst nehmen, seit fast alles Aktuelle selbst so erschreckend geworden ist. Aber etwas Besseres fällt einem jetzt leider doch nicht ein als These dafür, warum Gerhard Gundermann 22 Jahre nach einem Schlaganfall und seinem Tod in unterschiedlichster Form an gleich mehreren deutschen Theatern gegeben wird, warum sein Name in Gesprächen auch außerhalb der Lausitz wieder häufiger fällt, warum der Schauspieler Alexander Scheer und der Regisseur Andreas Dresen im nächsten wie übernächsten Jahr weiter Konzerte mit Liedern Gundermanns geben wollen, obwohl er jetzt auch schon wieder mehr als zwei Jahre her ist: der Film von Dresen und mit Scheer, der Film, der aus dem Gundermann-Interesse, das im Osten auch nach 1989 nie ganz verloren gegangen war, einen Gundermann-Hype machte, ja, eine Gundermania, in deren Nachgang die Konzerte aller möglichen Erbschaftspfleger nun noch besser besucht sind als zuvor, so sie denn ausgerichtet werden dürfen.

Ein zweiter wesentlicher Punkt für die nicht nur gefühlt stärkere Präsenz Gundermanns in der Gegenwart einer größeren Teilöffentlichkeit ist, dass die Zeit ihn und seine Gedanken inzwischen eingeholt hat. Man muss wohl besser jetzt als später ein Mal kurz das Wort Stasi erwähnen, um dem Verdacht einer hysterischen Heldenverehrung zu entgehen, aber so wahr es ist, dass auch Gerhard Gundermann kein schuld- und fehlerfreies Leben führte, so sensationell stehen nicht wenige seiner Texte heute in der Zeit.

Welche soziale und biografische Härte damit einher kann, wenn Arbeitsplätze demnächst abermals in großer Zahl zum Beispiel in der Braunkohle wegfallen, das hat Gerhard Gundermann für alle Fälle vor langer Zeit schon formuliert: "Ich war'n Bergmann, weiter hab' ich nüscht gelernt / Ich hab dieses Land in jedem Winter treu gewärmt". Mit welchem inneren Spaltmaß viele ihre Leben in Deutschland heute bei vollem Bewusstsein führen, dazu gibt es zwei gute Sätze Gundermanns, die Grit Lemke in ihrem hervorragenden Dokumentarfilm "Gundermann Revier" (2019) zitiert: "Wir sind alle Opfer und Täter zugleich. Ich verpeste mit meinem Auto die Luft, die ich selber atme."

Und welche Ernüchterung es bedeutet zu verstehen, dass es eine überwiegend heitere Zukunft für die Welt, die Lausitz und auch für jeden Einzelnen nur gegen Widerstände wird geben können, lässt sich ebenfalls im Textbuch Gerhard Gundermanns nachlesen: "Ja, hast du geglaubt, all die Steine im Weg / zerfallen zu Staub, daß ne Wolke dich trägt / Und böse Drachen wären feige und faul / und mehr was zum Lachen und zahnlos ihr Maul."

Vielleicht war es Stasi-Scham, die ihm diese Anerkennung so sehr lange verwehrte

Viel besser als gleich wieder ratlos über die Drachen nachzudenken ist es, mit jenen zu telefonieren, die sich mit diesen und anderen Zeilen Gundermanns noch immer auseinandersetzen. Da ist zum Beispiel Michael Nass, der vor allem Keyboard bei der Rockgruppe Die Seilschaft spielt, mit der sich Gundermann Anfang der Neunziger verbündete und die seit 2008 wieder unterwegs ist. Nass sagt, er freue sich, dass Arbeit, Poesie und Kraft Gundermanns eine "späte Wertschätzung erfahren". Ja, es bestehe, so Nass, sogar Anlass zu der Hoffnung, dass sich "der historisch gewachsene Osten, die Rest-DDR sich nach dem Film von Dresen langsam darauf besinnt, dass es in Gerhard Gundermann eigentlich eine Identifikationsfigur hatte". Vielleicht war es Stasi-Scham, die eine frühere Anerkennung in dieser oder ähnlicher Weise verhinderte, vielleicht die nachvollziehbare Lust, nach dem Mauerfall erst einmal andere Popkultur aufzusaugen. Womöglich auch beides.

Jetzt jedenfalls ist es so, dass Nass eine Qualität der Lieder Gundermanns darin sieht, dass diese nicht wie viele Stücke heute als optimierter Datenbrei für die Streamingdienste quellen. Die Lieder seien stattdessen, so Nass, "einfach echt, sie kommen von Herzen, das sind im besten Sinne Heimatlieder, das traut man sich ja fast gar nicht zu sagen!"

"Es war gut, wenn die Schornsteine rauchten, das hieß Zukunft."

Grit Lemkes Heimat war immer Hoyerswerda und ist es in den vergangenen Jahren zumindest sommers wieder geworden. Die Anfragen, ihren Film zu zeigen, rissen nach wie vor nicht ab, sagt sie und ein Grund dafür könnte sein, "dass da so ein riesiges Loch ist, dass Leute sich nicht gesehen fühlen". Dies habe, so Lemke, auch etwas damit zu tun, wie der Osten lange Zeit dargestellt worden sei und teils noch immer dargestellt werde. Etwas, das man heute Narrativ nennt, wird immer weiter reproduziert, und in dieses Narrativ aber passt gerade ein so widersprüchlicher Geist wie der von Gundermann nicht rein.

Dabei lässt sich in diesen Widersprüchen, natürlich, so viel mehr finden als irgendwelche vermeintliche Eindeutigkeiten. Lemke macht das beispielhaft an der Arbeit fest, ein Begriff, der in der Lausitz auch damals fast gleichzusetzen war mit der Kohle, in der Arbeit und im Kollektiv sollte der Sinn liegen und tat es auch, "wir sind ja mit so einer Kohlekultur aufgewachsen, es war gut, wenn die Schornsteine rauchten, das hieß Zukunft und das muss man ja erst einmal durch eine andere Sinngebung ersetzen."

Und an solche Fragen der Sinngebung stieß Gerhard Gundermann eben früher als andere, er war einer, so Lemke, "der wusste, dass es gut ist, wenn wir die Erde nicht mehr aufbutteln - und genau daran geht er dann trotzdem kaputt, wenn er es nicht mehr machen darf".

Zwar habe, sagt Lemke, Gerhard Gundermann zu seiner Zeit teils auch "in eine große Verständnislosigkeit hineingesprochen". Aber selbst wenn das jetzt noch paradoxer klingt, am Ende kann gerade diese Widersprüchlichkeit Gerhard Gundermanns sogar zusammenführen, wenn nicht damals schon, so zumindest heute.

Grit Lemke sagt, es sei schon häufiger vorgekommen, dass Tagebaugegner neben Kohlekumpeln in einer Vorführung ihres Films gesessen hätten. "Die sitzen heute sonst nicht mehr friedlich in einem Raum, die schreien sich wenn überhaupt im Netz an." Aber nun sitzen sie da, "und am Ende heulen alle, vielleicht aus unterschiedlichen Gründen, aber da ist dann wieder ein Gespräch möglich."

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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