Der Wohnbezirk am südlichsten Zipfel von Berlin-Kreuzberg bildet eine denkbar gut abgeschlossene Welt für sich. Er wird im Westen eingefasst vom Görlitzer Park, im Osten grenzt er an die Spree. Nördlich dieses schmalen Streifens verläuft auf gusseisernen Stelzen eine U-Bahn zur Oberbaumbrücke. Im Süden, bei der alten Grenze zur Hauptstadt der DDR steht im sogenannten "Schlesischen Busch" noch ein Wachturm.
Drumherum sind Grillwiesen, eine Party-Lokation in einer alten Fabrik, Lokale am Wasser - eine vor allem bei jungen Berlinern beliebte Ausgehgegend. Dort feiern keineswegs nur Spanier und Schweden, sondern vor allem Köpenicker oder Jugendliche aus Schöneweide, wenn sie ihren tristen Bezirken entfliehen wollen. Wenn öffentliches Fußball-Viewing stattfindet, erheben die jungen Leute sich beim Deutschlandlied von ihren Plätzen.
Dieser Kiez am Schlesischen Tor, den die stark befahrene Schlesische Straße durchläuft, besteht fast ausschließlich aus Berliner Mietshäusern der Zeit um 1900 - zwei, drei hässliche Neubauten aus den siebziger Jahre ausgenommen. Außerdem liegt hier jene Brache, auf der das BMW-Guggenheim-Projekt stattfinden sollte, das eine Kiezbewegung durch ihre Drohungen jetzt verhindern konnte.
In so einer kleinen, verschlossenen Welt geschieht generell wenig. Das ist ihr Charme, aber auch ihre Begrenzung. Noch vor zehn Jahren regierten in der Wrangelstraße, der Parallele der Schlesischen Straße, arabische Jugendgangs, die vor traurigen Kiosken mit Dosenbier- und Schokoriegelangebot herumhingen und sich häufig prügelten. Was seither geschah, wird oft "Gentrifizierung" genannt. Schon wer aus Prenzlauer Berg kommt, geschweige aus München-Haidhausen, kann darüber nur lachen.
Was ist passiert? Ein Billig-Hostel für Jugendtouristen hat an der Schlesischen Straße aufgemacht, garantiert nur geeignet für lärmunempfindliche Kundschaft. Viele Lokale gibt es inzwischen, von der düster-alternativen Berliner Sofa-Kneipe bis zu türkisch-arabischen Schnellimbissen. Zum "Görli" hin, also am Görlitzer Park, haben ein paar ebenso einfache wie gute Restaurants aufgemacht. Daniel Brühl, der niedliche Schauspieler mit spanischen Wurzeln, hat den einzigen teuren Laden der Gegend eröffnet, eine Tapas-Bar. Die Fassaden sind alt und graffiti-überzogen. Nachts ist viel los, und wer Stoff im Görli sucht, wird bedient. Die frühere Spannung zwischen Migranten und den anderen, auch der Berliner Polizei, ist durch das dritte Element der jungen Besucher aus aller Welt angenehm aufgelöst worden.
Seit ein paar Jahren sieht man dort an Laternenmasten und auf Sicherungskästen Aufkleber, die den Touristen versichern: "Berlin does not love you" (dargestellt durch ein durchgestrichenes rotes Herz, in Umkehrung von "I love Berlin"). Das fällt wenig auf, und wenn man Ausländer darauf hinweist, sind sie überrascht. Für hohe Mieten ist diese Mikrowelt immer noch viel zu laut, zu unsaniert, zu struppig. Dass sich daran demnächst etwas ändern könnte, ist unwahrscheinlich, denn die Struktur des Stadtplans und damit der Durchgangsverkehr lässt sich nicht verhindern, und auch Türken und Araber werden bleiben.
Niemand braucht diese läppischen Rituale
Es könnte natürlich sein, dass die Brache an der Cuvrystraße teuer bebaut wird - aber auch das dürfte der Kiez aushalten. Sicher ist jedenfalls, dass jeder Neubau genauso empfangen würde wie seinesgleichen zwischen Halleschem Tor und Karl-Kunger-Straße: mit Farbbeuteln, zerstörtem Baugerät, zerbrochenen Fensterscheiben. Südlich vom Görli steht so ein Neubau - selbst die schwullesbische Regenbogenfahne an vielen Balkonen hat ihn vor diesem Schicksal nicht bewahrt. Irgendwann wird auch er sich ins Bild fügen.
Dass die Mieten in Berlin "explodieren", kann ohnehin nur behaupten, wer München, Frankfurt oder Düsseldorf nicht kennt. Doch nach jahrzehntelanger Berlin-Subventionierung hat sich der Glaube festgesetzt, Erhaltung von Bausubstanz koste nichts.
Es ist vermutlich schon richtig, was die Gegner der BMW-Guggenheim-Aktion jetzt beleidigt festhalten: Nie sei Gewalt gegen Personen angedroht worden. Die Berliner Zeitung, seit ihrer Fusion mit der Frankfurter Rundschau auf entschlossenem Kurs in jenes kompromisslose linke Spießertum, das schon das Frankfurter Blatt in den Ruin geführt hat, spricht nun von einer "Überreaktion" der Guggenheim-Leute. Und es stimmt: Berlin hat seit 25 Jahren gelernt, mit solchen Protestlagen geschmeidig umzugehen, durch Deeskalationsteams der Polizei, aufs Äußerste gedehnte Legalität, Vernageln von Schaufenstern, Reinigungsarbeiten am nächsten Morgen.
Doch anders als die Stadt und die Bewohner der betroffenen Bezirke müssen weder eine große Stiftung noch ein Autokonzern sich diese läppischen Rituale, aus denen längst nichts mehr folgt, antun. Sie haben die Möglichkeit, einfach wegzubleiben und ihr Zelt an einer anderen Stelle aufzuschlagen. Mehr ist nicht passiert: Eine kleine, enge Welt bleibt weiter unter sich.