Nachruf auf Günther Rühle:Der Theatererklärer

Nachruf auf Günther Rühle: Günther Rühle (1924 - 2021).

Günther Rühle (1924 - 2021).

(Foto: Still der Videoarbeit "Zoon Politikon" des Künstlers Jonas Englert / zoonpolitikon.net)

Der Kritiker und ehemalige Frankfurter Intendant Günther Rühle ist im Alter von 97 Jahren gestorben. Er war eine Instanz.

Von Christine Dössel

Zuletzt hat Günther Rühle trotz fortschreitender Erblindung noch einmal das getan, was dieser Kritiker und Chronist des Theaters am besten konnte: schreiben. Gemeint ist nicht die Arbeit am dritten Band seiner groß angelegten deutschen Theatergeschichte. Die hatte er schweren Herzens einstellen müssen, dafür waren seine Augen schon zu schwach. Was der durch eine Makula-Degeneration außer Gefecht Gesetzte im Oktober 2020, im Alter von 96 Jahren, stattdessen begann und sich ein halbes Jahr lang abrang, war ein Tagebuch - erstmals in seinem Leben. Er tippte die Sätze im Zweifingersystem "auf gut Glück" in die Computertastatur, ohne die Zeilen lesen zu können, oft daneben hauend, wie er bitter-ironisch formuliert, ein "Hersteller von Wortsalat", darauf angewiesen, das jemand aus "diesen Tagebuchstabenfetzen" ein lesbares Manuskript macht.

Dieser Jemand fand sich in dem Dramaturgen und Theaterfreund aus alten Tagen Gerhard Ahrens, der die Aufzeichnungen in diesem Herbst im Berliner Alexander-Verlag herausgegeben hat. "Ein alter Mann wird älter" ist Günther Rühles persönlichstes Vermächtnis, er nennt es im Untertitel "ein merkwürdiges Tagebuch". Merkwürdig schon deshalb, weil hier ein ganz anderer Mensch zu erleben ist als der sachbezogen strenge, zeitlebens nur in Arbeitszusammenhängen denkende, lebende, schreibende, in seinem Auftreten - dies sei aus Kolleginnenwarte hinzugefügt - meist griesgrämig altherrenhafte, heiteren Charmes abholde Theatererklär-Rühle. Er schreibt selber ganz verwundert: "In diesen Tagebucheinträgen gebe ich zum ersten Mal was von mir preis. Ich formuliere zum ersten Mal was von innen drin, das ich selbst nicht kannte, vielleicht auch nicht wissen wollte." Er habe immer nur nach dem gelebt, was er das "Rühlesche Leistungsprinzip" nennt. "Neunzig Jahre gebraucht, bis ich ein Verhältnis zu mir selbst bekam."

In seinem Tagebuch versuchte er, sich "als alter Mann zu begreifen"

Vor diesem Hintergrund wirkt das, was der "stillgelegte" Rühle an und in sich wahrnahm, umso berührender. In seinem Tagebuch versuchte er, sich selbst "als alter Mann zu begreifen", festzuhalten, was da mit ihm geschieht, was noch geht und was nicht mehr, wenn man auf die 100 zusteuert - und was der Unterschied ist zwischen Älterwerden, Veralten und Veraltern. Er beschreibt seine täglichen Rituale, seine "Strecke" (1200 Schritte am Tag), die Schwierigkeiten mit dem Computer oder beim Anziehen, die gelegentlichen Suizidgedanken, die Leere in dem Haus im Taunus. All das ganz nüchtern, kühl, ohne Larmoyanz. Seine Frau Margret starb bereits 2008. Es sind die Aufzeichnungen eines einsamen Mannes am Lebensende. "Man schweigt fast den ganzen Tag. Manchmal entdeckt man sich in Selbstgesprächen. Man kommt sich komisch vor, wenn man sich entdeckt."

Goethe ist ein Begleiter, Rühle hört dessen "Dichtung und Wahrheit" (auf CD). Und er begibt sich zu seinem Freund im Geiste, den großen Berliner Kritiker und späteren Exilanten Alfred Kerr (1867 - 1948), den er den Deutschen (wieder) nahebrachte. Rühle gab nicht nur die acht Bände der Kerr-Werkausgabe, sondern auch die von ihm aufgestöberten "Berliner Briefe" heraus, die Kerr über seine Rezensionen hinaus als einen sprachvirtuosen Schriftsteller auswiesen. "Das war fast eine Lebensarbeit, eine Exhumierung, eine Wiederherstellung", schreibt er darüber in seinem Tagebuch. Und es war eine Sensation. Auch die "Gesammelten Schriften" von Marieluise Fleißer edierte er.

Rühle stammte aus einer Weilburger Bäcker-Familie, der Vater war Mundartdichter

Beim Schreiben zunehmend "von Erinnerungen überwältigt", reist Rühle in seinem Tagebuch zurück an Stationen seines Lebens als Journalist, Kritiker und Theaterintendant. Und gelegentlich auch in seine Kindheit, die der 1924 in Gießen Geborene in Weilburg an der Lahn verbrachte. Der Großvater betrieb dort eine Bäckerei. Später zog die Familie nach Bremen, wo der Vater, ein leidenschaftlicher Mundartdichter, als Wirtschaftsprüfer arbeitete. Die Mutter pflichtbewusst, arbeitsam, ohne "Talent zum Glück". 1942, mit 17 Jahren, wurde Günther Rühle als Soldat eingezogen, erlebt die Schrecknisse der letzten Kriegsjahre. Danach macht er in Bremen sein Abitur, studiert in Frankfurt am Main Germanistik, Geschichte und Volkskunde und promoviert über die "Träume und Geistererscheinungen in den Trauerspielen des Andreas Gryphius".

Rühle wird Journalist, zunächst beim Ost-West-Kurier und bei der Frankfurter Rundschau, dann, von 1954 bis 1960, Feuilletonredakteur der Frankfurter Neuen Presse, wo er erste Theaterkritiken schreibt. 1960 wechselt er ins Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), dessen Leitung er 1974 übernimmt - mit dem Wermutstropfen, dass er als Feuilletonchef keine Theaterkritiken mehr schreiben durfte. Das hatte der neue Herausgeber Joachim Fest ihm untersagt. In seinem Tagebuch schreibt Rühle, wie bitter das für ihn war. Unter dem Kürzel "g.r." hatte sich Rühle einen Namen als liberaler, kämpferischer, dem Neuen aufgeschlossener Kritiker gemacht. In der FAZ galt er allein schon deshalb als Linker, weil er sich für das Werk Brechts in die Bresche warf.

Die Zeit als Intendant in Frankfurt erschien ihm als "Mutation"

Als er von dem damaligen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann und anderen städtischen Granden "bedrängt" wurde, das angeschlagene Frankfurter Schauspiel zu übernehmen, tat er das: Rühle wechselte die Seiten und war von 1985 bis 1990 Intendant. Für ihn eine "Mutation". Es war keine wirklich glückvolle Zeit. Die geplante Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" 1985 führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Jüdischen Gemeinde, die das Stück für antisemitisch befand. Es war ein veritabler Theaterskandal. Auch gegen Einar Schleef, den Rühle in seiner fünfjährigen Intendanz als Regisseur durchsetzte, gab es kulturkampfähnliche Proteste.

Nach diesen auch schmerzvollen Erfahrungen mit der Theaterpraxis begann Rühles Zeit als Theatererforscher, Theaterhistoriker, Theaterchronist - und als graue Eminenz seines Fachs, die er bis zuletzt war. Seine zweibändige Dokumentation "Theater in Deutschland 1887 - 1945" (2007) und "Theater in Deutschland 1946 - 1966" (2014) umfasst rund dreitausend Seiten und ist ein Grundlagenwerk für die Theaterwissenschaft. Dass er den dritten Band dieses seines "Lebenswerks" nicht mehr vollenden konnte, seine Auseinandersetzung mit dem Theater von Claus Peymann, Peter Zadek, Peter Stein, Christoph Marthaler bis hin zu Frank Castorf, war für Rühle ein "tiefgreifender Schmerz": "Wie Shylocks Pfund Fleisch aus dem lebendigen Leib." In fragmentarischer Form soll dieser unabgeschlossene dritte Teil, "Theater in Deutschland 1967 - 1995", nächstes Jahr dennoch erscheinen (alle bei S. Fischer), betreut und herausgegeben von dem Dramaturgen Hermann Beil.

Seine jährliche Rede beim Theatertreffen war eine zur Lage dieser Kunst

Der strenge Denker und Theateranalytiker Günther Rühle war von 1993 bis 1999 Präsident und danach Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste sowie von 1999 bis 2017 Präsident und seither Ehrenpräsident der Alfred-Kerr-Stiftung, die jedes Jahr während des Berliner Theatertreffens einen Darstellerpreis vergibt. Bei der Vergabe dieses Preises hielt Rühle, für den das bürgerliche Theater spätestens seit dem Tod Heiner Müllers beerdigt war, stets eine Rede zur Lage des Theaters: kritisch, mahnend, oft sehr kulturpessimistisch. Aber bei aller Kanzelhaftigkeit war sie immer zu spüren: Rühles Liebe zum Gegenstand und dahinter diese unverbrüchliche Überzeugtheit vom Theater als kulturell prägende Kraft.

Der sich älter als alt fühlende Rühle hat seinem "Abgang aus der Welt" entgegengeschrieben: "Man stirbt in seinen Gedanken länger als in seinem Körper." An diesem Freitag ist der Tod dann tatsächlich eingetreten in das stille Haus in Bad Soden im Taunus. Günther Rühle starb im Alter von 97 Jahren.

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