Günter Wallraff im TV:Es wallrafft wieder

Bei Anruf Abzocke: Der Chef-Enthüllungsjournalist war wieder unterwegs, diesmal in einem Callcenter. Heute Abend läuft sein Film - und ans Aufhören denkt Günter Wallraff noch lange nicht. Auch wenn seine Maskenbildnerin inzwischen tüchtig zu tun hat.

Hans Leyendecker

Als die schwedische Zeitung Svenska Dagbladet vor einiger Zeit über eine Journalistin berichtete, die undercover Taxifahrer auf krummen Touren beobachtet hatte, wurde ihre Geschichte so angekündigt: "Har wallraffat en taxiåkande turist". Die Reporterin hatte gewallrafft, und die Leser verstanden das sofort.

Günter Wallraff im TV: Günter Wallraff alias Michael G. in der ZDF-Doku "Bei Anruf Abzocke". Er sagt: "Wenn ich so alt aussehe, wie ich bin, bekomme ich nirgendwo mehr einen Job."

Günter Wallraff alias Michael G. in der ZDF-Doku "Bei Anruf Abzocke". Er sagt: "Wenn ich so alt aussehe, wie ich bin, bekomme ich nirgendwo mehr einen Job."

(Foto: Foto: ZDF/ Andreas Schneegans)

Der Begriff "wallraffen" findet sich in Skandinavien in Wörterbüchern und steht für das Aufdecken von Missständen durch Journalisten, die undercover arbeiten - so wie es der deutsche Reporter Günter Wallraff vor allem in den siebziger und achtziger Jahren gemacht hat, als er sich beispielsweise als "Hans Esser" bei Bild, als Türke Ali bei Thyssen oder als Bürobote im Gerling-Konzern einschlich und dann seine Enthüllungsreportagen aus der Arbeitswelt schrieb.

Eigentlich ist der Kölner mit seinen 65 Jahren im Rentenalter, doch dem Marathon-Mann (Bestzeit: zwei Stunden und fünfzig Minuten) läuft die Zeit weg. "Ich bräuchte drei Leben, um zu erledigen, was ich noch erledigen möchte", sagt er.

Seit einer Weile ist er wieder undercover unterwegs, und das Fernsehpublikum kann ihn am heutigen Dienstag in einer seiner neuen Rollen erleben: Bei Anruf Abzocke erzählt aus dem schmutzigen Innenleben der Call Center. Im Sommer hatte Wallraff als Michael G. für das Zeit-Magazin bei Callcentern angeheuert und viele Einschüchterungsversuche und Betrügereien erlebt. Co-Autor des Films ist Pagonis Pagonakis, Mitautor der mit einem Preis ausgezeichneten Dokumentation über einen afrikanischen Asylbewerber (Tod in der Zelle - Warum starb Oury Jalloh?/2006).

Wallraffs ganz große Zeit in Deutschland liegt zwei Jahrzehnte zurück, aber in vielen Ländern ist er berühmt geblieben. So hat er, fast unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit, in den neunziger Jahren in Japan ganz unten als iranischer Arbeiter gewerkelt. Der dazugehörige Film im japanischen Fernsehen fand Aufmerksamkeit. Er kümmerte sich mit seinem Rechtshilfefonds um Bild-Opfer, gab Bücher heraus, fuhr Zweierkajak auf dem Rhein und war manchmal auch ein bisschen träge. Man kann die Welt nicht jeden Tag retten. Außerdem ist der Vater von fünf Töchtern, der "zum dritten mal glücklich verheiratet ist" (Wallraff), Opa geworden. Er hat zwei Enkel. Wenn sie nett zum Großvater sind, nennen sie ihn Günter.

Eine harte Zeit liegt hinter ihm. Über ein Jahrzehnt lang hat er an einer Knochen-Krankheit gelitten, die ihn oft ans Haus in Köln-Ehrenfeld fesselte. Er konnte kaum noch gehen, litt unter Muskelschwund. Unvergessen, wie ihn ein Freund im Kofferraum seines Wagens zu einem Spezialisten gebracht hat. Von da an ging es mühselig bergauf. Anderthalb Jahre brauchte er Krücken, dann versuchte er sich an kleineren Parcours, läuft inzwischen wieder Marathon.

Heute fühlt er sich "jünger als vor zehn Jahren". Dass der alte Asket wieder läuft, wieder straff wirkt, nicht wie ein alter Mann daherkommt, war allerdings auch eine Grundbedingung, um sich noch einmal im alten Tarnkappen-Metier zu versuchen. Wallraff hat zwar keine Schwierigkeiten, in andere Identitäten zu schlüpfen, doch "wenn ich so alt aussehe, wie ich bin, bekomme ich nirgendwo mehr einen Job". Die Maskenbildnerin hat tüchtig zu tun.

Er bastelt derzeit an verschiedenen Undercover-Projekten; "fünf, sechs" will er im nächsten Jahr schaffen. Ein weiteres Projekt hat er abgeschlossen, vor der Veröffentlichung gibt es noch rechtliche Fragen. Wie immer. Über Jahrzehnte hat Wallraff Prozesse führen müssen, die andere gegen ihn angestrengt hatten. Die Erfahrung mit der gedruckten Call-Center-Reportage kam für ihn etwas überraschend. Es gab keine Rechtsstreitereien, stattdessen meldeten sich Dutzende von Informanten.

Telefonverkäufer erzählten von ihrer Gewissenspein, und die Geschichte zeigte auch ökonomisch Wirkung: Einer der Vermarkter, dessen Methoden Wallraff enttarnt hatte, entließ 450 seiner insgesamt 600 Mitarbeiter, weil das Geschäft nicht mehr lief. Auch konservative Politiker lobten Wallraff, der wiederum, um das Thema nicht erkalten zu lassen, sich selbst bei Sat 1 im Frühstücksfernsehen interviewen ließ. Das hätte er früher nicht gemacht.

Es wird also noch ein paar Jahre weiter gewallrafft, auch wenn sich manches in der Arbeitswelt verändert hat. Übrigens nicht zum Besseren. Die Menschen, die er in seinen bisherigen Rollen am Arbeitsplatz erlebt, sind "mutloser, verzweifelter, willfähriger" als die Kollegen von einst. "Die Gesellschaft hat sich entsolidarisiert", stellt Wallraff fest.

Bei Anruf Abzocke, ZDF, 21 Uhr.

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