Süddeutsche Zeitung

Günter Grass trifft Übersetzer:Mandarinen und milde Worte

Was ist der Unterschied zwischen Kleckerburg und Sandburg? Im Kreis seiner Übersetzer präsentiert sich Günter Grass im Gespräch über seine Gedichte wie nach einem erfolgreichen Kuraufenthalt - und überrascht mit einem Bekenntnis zur Kritik.

Von Till Briegleb

Mitten in dem Übersetzersymposion über sein lyrisches Werk in Lübeck sagt Günter Grass plötzlich relativ unvermittelt, aber vehement zwei bemerkenswerte Sätze: "Es ist das Schlimmste, was man einem Schriftsteller antun kann, wenn er keine Kritik mehr erfährt. Das ist ein erzerner Sargdeckel." Zwar bezieht Grass die Aussage auf den Kult, der angeblich um Paul Celan betrieben werde, aber der Inhalt bekommt erst eine gewisse Brisanz durch den Schriftsteller, der diesen formuliert. Grass, der für sein spätes Bekenntnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, und sein jüngstes Gedicht über den durch Israel bedrohten Weltfrieden "Was gesagt werden muss" mehr Kritik erfahren hat als jeder andere deutsche Dichter der Gegenwart, erweckte nämlich bislang nicht den Eindruck, froh über anderer Leute gegensätzliche Meinung zu sein.

Die starken öffentlichen Reaktionen auf den Widerspruch, dass ein Mann, der sich immer wieder zum moralischen Gewissen der Nation aufschwingt, die dunklen Seiten seiner Biografie erst als Senior bekennt, beantwortete Grass 2007 mit dem Gedichtband "Dummer August", der vor allem seine Gekränktheit ausdrückte. Und in seiner letzten, 2012 veröffentlichten Lyriksammlung "Die Eintagsfliegen", aus der auch die pathetische Israel-Kritik im prosaischen Gedichtkleid stammt, die ihn in Jerusalem zur unerwünschten Person gemacht hat, findet sich eine weitere pauschale Beschimpfung von Kulturjournalisten und anderen Kritikern. Unter dem Titel "Für die Gemeinde meiner Feinde" stilisiert sich Grass zum Monument des reflektierten Zweifels, das von zweitrangigen "Kleinmeistern billiger Häme" aus niedersten Motiven öffentlich entehrt werde.

Und jetzt also ein so grundsätzliches Bekenntnis zur Kritik? Und das ausgerechnet an einem Ort, dem Grass-Haus in Lübeck, wo der Besucher mit einer Wand salbungsvoller Zitate über die Größe des Autors empfangen wird, und auf einer Veranstaltung, die schon in ihrer Anlage möglichst wenig Zündstoff bietet? Das Übersetzertreffen zu Günter Grass' sechzig Jahre währender Gedichtproduktion ist nämlich eine Versammlung von sehr sympathischen, höflichen und leise sprechenden Menschen, die sich selbst als "Familie" bezeichnen, weil sie sich Grass so nahe fühlen.

Schmunzelnd unbeantwortet

Elf Übersetzer aus neun Ländern, von denen der Älteste, der Pole Slawomir Blaut, bereits seit 45 Jahren den empathischen Job der Nachdichtung in neuer Sprache betreibt, dazu vom Steidl Verlag der Grass-Lektor Dieter Stolz als Moderator, schaffen trotz der gefährlichen Anwesenheit einiger Journalisten eine Wohlfühlwärme unter den türkisen Dachbalken in Grass' Sekretariat, die von keiner kritischen Kälte gestört wird.

Ihm selbst tut dieses Bad der Zuneigung offensichtlich wohl. Zwei Wochen nach einer Herzklappenoperation und nach Monaten, in denen die Gesundheit des 85-Jährigen so sehr nachgelassen hatte, dass enge Mitarbeiter um sein Leben fürchteten, präsentiert sich Grass in seiner Übersetzerfamilie wie nach einem erfolgreichen Kuraufenthalt. Mit fester Stimme liest er seine Gedichte vor, erzählt Anekdoten von der Nobelpreisverleihung oder wie er in öffentlichen Debatten mit der APO zur Unterstützung seiner Argumente einfach Lenin-Zitate erfand. Er fragt ab, ob seine Übersetzer wüssten, was die Stellung "69" ist, debattiert den Unterschied von Sand- und Kleckerburgen. Die meisten Verständnisfragen aber lässt er schmunzelnd unbeantwortet, entweder, weil er sich nicht mehr an die Herkunft seiner Ideen erinnert, oder weil er das Mehrdeutige, das seine frühen Gedichte von seinen späteren unterscheidet, nicht durch Erklärungen schmälern möchte.

Seit 1978 findet zu jeder neuen Grass-Veröffentlichung solch ein Übersetzertreffen statt. In seinen Verträgen mit dem Steidl-Verlag hat er sich dieses Recht ausbedungen. Umso erstaunlicher, dass es noch nie einen Austausch zur Lyrik gegeben hat, begann Grass' literarische Karriere doch 1956 mit dem Gedicht-Zyklus "Die Vorzüge der Windhühner" und fand in den "Eintagsfliegen" mit den "Gedichten als eines Lebens Bilanz" einen so deklarierten Abschluss.

Am ersten Tag dieser halböffentlichen Veranstaltung wurde deswegen fast schuldbewusst ständig darauf hingewiesen, wie eminent wichtig die Gedichte in Grass' Gesamtwerk seien, dass sie stets die Funktion von "lyrischen Vorformen zu Romanen" (Grass) gehabt hätten. Und so widmeten sich die Grass-Kenner hingebungsvoll der Fundstellensuche, vom ersten Auftauchen der Ratten bis zu Kochrezepten und Klokritzeleien wurde ein Netz motivischer Bezüge gesponnen, das die Prosa mit den Gedichten verkettet.

"Gluu, puu, pfff . . ."

Typische Übersetzer-Probleme tauchten natürlich auch dann und wann auf. Ob es wichtiger sei, den Rhythmus zu bewahren oder die Reime und Alliterationen? Womit man ein Wort wie "begabt" übersetzt, das es in den meisten Heimatsprachen der Anwesenden so nicht gibt? Und wie man das Geräusch der Ostseewellen, das Grass in dem autobiografischen Gedicht "Kleckerburg" mit "Blubb, pifff, pschsch . . ." wiedergibt, ins Chinesische transformiert? "Gluu, puu, pfff . . ." ist die Antwort des chinesischen Grass-Übersetzers Hongjun Cai unter allgemeinem Gelächter.

Ja, man hat sich gern in diesem Kreis und behandelt selbst trockene Fachprobleme mit dem nötigen Humor. Schließlich hat auch Grass' Literatur einen stets launigen Ton, jedenfalls so lange, wie es nicht um politische Gardinenpredigten und böse Kritiker geht. Und wirklich zeigt die Beschäftigung mit den Gedichtsammlungen der frühen Jahre, dass "Gleisdreieck" (1960) oder "Ausgefragt" (1967) durchaus eine neue Lektüre lohnen. Gerade in der eigenwilligen Metaphorik dieser Periode, die Grass später immer mehr zugunsten von Klartext-Ansprachen in Zeilen-Kaskaden aufgab, findet sich jene poetische Offenheit, die dem Gedicht seine Lebensberechtigung im weißen Rauschen der Buchseiten verleiht: Dass man es immer wieder neu lesen und entdecken kann, weil es eben nicht bestimmt auftritt. Im Vergleich mit den "Eintagsfliegen" zeigt sich dann aber auch, wie aus dieser Offenheit gegenüber den Wirrnissen der Wirklichkeit ein hermetischer Meinungsstil geworden ist, der zwei Todsünden jeder Lyrik begeht: Überheblichkeit und Belehrung.

Ist der "erzerne Sargdeckel" also nur ein Problem der anderen, die sich von Deutschlands letztem männlichen Literaturnobelpreisträger keine Standpredigt anhören wollen? Oder war der Satz vom "Schlimmsten", das einem Autor widerfahren kann, vielleicht doch eine Botschaft an die anwesenden Journalisten, dass Grass in der "zweitrangigen" Kritik hämischer "Kleinmeister" wieder die Werte einer demokratischen Streitkultur erkennt? Einer Kultur, bei der es eben zur Tugend gehört, dass, wer austeilt, auch einstecken muss? Beim friedlichen Meisterkurs mit Mandarinen, Mon Chéri und milden Worten klang das Lob der Kritik jedenfalls eher versöhnlich als selbstgerecht. Wenn dem so war, gibt es daran auch nichts zu kritisieren.

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SZ vom 14.02.2013/ihe
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